Tagesspiegel, 23.2.2000 Kommentar Islamismus, Liberalismus und Revolution Andrea Nüsse Die islamische Revolution vor gut 20 Jahren war ein Einschnitt in der Geschichte der arabisch-islamischen Welt. Seitdem beherrscht der Islamismus den moralischen und politischen Diskurs in der Region. Der direkte Export der Revolution hat allerdings nicht funktioniert, zu unterschiedlich sind die religiösen und politischen Traditionen im schiitisch geprägten Iran und in den zumeist sunnitischen arabischen Ländern. In ihnen bildeten sich nationale Bewegungen heraus, die sich trotz pan-islamischer Rhetorik zumeist darauf beschränkten, die politischen und sozialen Missstände im eigenen Land im Namen des Islam anzuprangern. Doch in Zukunft werden diese Länder wieder verstärkt nach Teheran schauen: Hier, in diesem "Laboratorium", wird in den kommenden Jahren entschieden, ob es eine Synthese zwischen Islam und politischem Liberalismus geben kann oder nicht. Iran ist das einzige Land, in dem das Volk sich ein theokratisches Regierungssystem gegeben hat. Jetzt ist der revolutionäre und ideologische Fanatismus verblasst, der sich zusammengeballt hatte, um den Umsturz zu schaffen, und die Iraner drängen auf Reformen des Systems. Sie drängen noch nicht auf dessen Abschaffung, denn die Revolution wird von der Mehrheit nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Denn der Umsturz 1979 war auch eine anti-imperialistische Revolution, deren Vermächnis und Opfer auch von der Jugend in Ehren gehalten werden. Dieser Grundkonsens macht es denkbar, dass auch die so genannten Hardliner des politischen Establishments, darunter die Armee, Reformen zulassen werden, um das Gesamtwerk zu bewahren. Gleichzeitig heißt dies, dass die Normalisierung der Beziehungen zum Westen, insbesondere zu den USA, nicht ganz oben auf der Tagesordnung steht. Das Land braucht zwar dringend Investitionen und wirtschaftliche Unterstützung, aber politische Ratschläge und Bevormundung aus dem Westen will man nicht. Auch das ist Konsens. Lieber kleine Reformen als Eskalation Daher muss der Westen die Einhaltung der universellen Menschenrechte fordern, darf aber nicht ständig Reformen nach dem westlichen Modell anmahnen, wenn er dem iranischen Experiment eine Chance geben will. Die Iraner wollen, nach einer Revolution und zwei Kriegen, kein Blutbad und keinen Bürgerkrieg, sondern politische Reformen. Trotzdem muss Präsident Chatami jetzt zeigen, wie weit seine politischen Reformen gehen sollen. Denn im Parlament hat er zukünftig einen Verbündeten und keinen Gegner mehr, der schon auf dieser Stufe unliebsame Vorhaben stoppt. So wird sicher zügig ein neues Pressegesetz verabschiedet werden, auch die Liberalisierung des Kulturlebens wird weitergehen. Spannend wird, ob Chatami auch in der Wirtschaft für Liberalisierung ist, bisher musste er sich da nicht festlegen. Ein Test, ob er die in ihn gesetzten Hoffnung erfüllt, könnten die strikten Regeln der Geschlechtertrennung und Verschleierung in der Öffentlichkeit sein, die einem Großteil der Jugend ein Dorn im Auge sind. Diese ließen sich lockern, ohne den islamischen Charakter des Landes in Frage zu stellen. Allerdings wäre dies ein Symbol, das das konservative politisch-religiöse Establishment herausfordert. Und da sind wir beim Kern der Sache: Nachdem das Parlament als Bollwerk gegen Reformen weggefallen ist, werden die vom Volk direkt gewählten politischen Instanzen, Präsident und Parlament, den zumeist ernannten Institutionen, Wächterrat und so genannter spiritueller Führer, konfrontativ gegenüberstehen. Dies heißt allerdings nicht, dass die Konfrontationslinie zukünftig genau zwischen Politik und Religion verlaufen wird. Denn der Klerus ist kein geschlossener Block. Das traditionelle religiöse Establishment könnte den Reformern zu Hilfe kommen: Denn deren prominente Vertreter fordern seit langem den Rückzug des Klerus aus der Politik, um die Reinheit des Islam zu bewahren. Nicht nur die islamische Welt wird in Zukunft gebannt nach Teheran schauen.
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