Neue Zürcher Zeitung, 26. Februar 2000 Die Skimütze - Teherans Mittel zur Befreiung Randerscheinungen einer alternden Ideologie In der Islamischen Republik zeichnen sich, infolge von Abnützung wie Toleranz, Bereiche mit grösserer sozialer oder wirtschaftlicher Freiheit ab. Präsident Khatamis Reformpolitik gilt aufgeklärten Politaktivisten als ein möglicher Weg, die staatlich verordneten Gesellschaftszwänge allmählich wieder abzuschaffen, ohne dem Islam wirklich zu schaden. vk. Teheran, im Februar Der Pulverschnee ist so flaumig und leicht wie in den Rocky Mountains. Und die Kids geben sich schlängelnd dem Rausch des Snowboards hin wie in Zermatt. In der Warteschlange am Skilift kreist der Flachmann mit Wodka, und man hält die Vorzüge von Chamonix denjenigen von St. Moritz entgegen. Doch wir sind auf über 3000 Metern Höhe im iranischen Skiparadies Dizin. Wenn sich das Panorama eröffnet, ist der erloschene Vulkan Damavand mit seinen 5671 Metern Höhe zum Greifen nahe. Der Dunstschleier Teherans liegt weit unten, aber keine zwei Fahrstunden entfernt. «Wie der Körper, so die Seele» «Sport fördert die Entwicklung von Körper und Seele, und ich bin dafür», so spricht unten beim Eingang der Revolutionsführer Khamenei wie ein Turnvater von der Blechtafel. Zur Erbauung plärrt aus dem Lautsprecher die Direktübertragung der Massenfeierlichkeiten zum Revolutionstag auf dem Azadi-Platz in Teheran. Auch hier herrscht Gedränge - vor dem Eingang zur Kabinenbahn. Frauen und Männer müssen in separaten Schlangen stehen. Und wenn der Ordnungshüter mit der Trillerpfeife Einhalt gebietet, um das zarte Geschlecht vorgehen zu lassen, so antwortet ihm ein fröhliches Pfeifkonzert aus der Menge. Auf der Piste geniessen dann junge Paare das lockere Zusammensein für einen ganzen Tag, wie es in der Stadt, an der Universität oder sonst in der islamisch geprägten Öffentlichkeit nicht schicklich wäre. Erst abends im Hotel lastet der Moralkodex wieder etwas schwerer, wenn die Frauen auch im gut geheizten Speisesaal ihre dicken Wollmützen nicht ausziehen dürfen. Ein Laufbursche des Skiverleihs liefert hier freilich gegen Trinkgeld sogar echtes türkisches Pilsner Bier an die Zimmertür. «Habt ihr denn euren Vorrat nicht wie alle anderen mitgebracht?» erstaunt er sich. Iranische Wochenendtouristen wollen sich, wie überall in der Welt, von den Zwängen des Alltags erholen. Doch es ist nicht nur ihre Findigkeit, die die Sittenwächter überlisten hilft. Die Islamische Republik lässt ihre Bürger mindestens am Rande ein Stück weit gewähren, auch wenn sie die plakativen Verhaltensregeln umstossen. Ähnliche Inseln der Seligen mit entspannter Atmosphäre finden sich bei der Wanderung im Gebirge nördlich von Teheran oder sogar in den Parks der Stadt. In den eigenen vier Wänden oder im Wochenendhäuschen im Grünen feiern ohnehin alle mit ihren Freundinnen und Freunden, wie sie Lust und Laune haben. Oft wird dieser Bruch mit der offiziell geregelten Aussenwelt zum Markenzeichen. So wählten zwei junge Frauen für ihr Teppichgeschäft eine Art Partykeller im Norden Teherans. Sie empfangen die Kundschaft unverschleiert und mit vollem Make-up. Während sie Tee servieren, tönt im Hintergrund sanfte Musik von John Lennon. Die Teppiche sind bestes traditionelles Handwerk, aber die Preise sind so, dass es sich bei der Beratung der Käufer eher um einen sozialen Zeitvertreib als um eine Verdienstquelle handeln muss. «Die Ware ist Ihr Geld nicht wert», sagt die Händlerin beim Einkassieren höflich, wie es sich seit tausend Jahren in Persien gehört. Die Behörden tolerieren nicht nur diese Nischen mit Sonderregeln,
sie schaffen sie sogar selbst, um das ideologische Bleigewicht der Wirtschaftsgesetzgebung
und Bürokratie zu umgehen. So bieten die Freizonen von Kish, Qeshm,
Sarakhs und Charbahar genau jene Charakteristiken eines weltoffenen
und investitionsfreundlichen Iran, wie sie die Basarhändler und
Geschäftsleute längst durchgesetzt hätten, wenn nur die
verfassungsmässigen Auflagen der Islamischen Republik nicht wären:
völlig freier Kapitaltransfer und Investitionsfreiheit, uneingeschränktes
Eigentumsrecht und Niederlassungsfreiheit für internationale Unternehmen,
schwunghafter Schwarzhandel mit Alkohol, Badestrände ohne Geschlechtertrennung
und neulich sogar eine zumindest rhetorische Einladung an amerikanische
Konsularbeamte. «Ein Bruchteil von Demokratie» Immerhin kann man von beiden Seiten her nun deutlich auf die Grenzen hinweisen. Khatamis Erfolg bei den Parlamentswahlen beflügelt viele. Eine Frauenrechtlerin gibt ganz offen zu verstehen, dass sie den Schleier nur gezwungenermassen trägt, weil sie durch den Kampf im Rahmen der islamischen Gesetzgebung immerhin auf eine Verbesserung des Ehe- und Scheidungsrechts hofft. Sogar wenn die Frau die Familie allein ernährt, bleibt der Vater rechtlich das Oberhaupt. Bis heute kann sie weder selbst die Scheidung einleiten noch nach der Trennung ihre Kinder behalten oder auch nur besuchen. «Wir haben nur einen Bruchteil von Demokratie», sagt eine aufgeklärte Anwältin rundheraus. «Viele Iraner sind zwar gläubig, wünschen aber trotzdem eine Trennung zwischen Religion und Staat. Einen gesetzlichen Schleierzwang halten sie für falsch, vielmehr soll jede Frau nach ihrem eigenen Moralempfinden frei über ihre Bekleidung entscheiden können.» Diese Juristin glaubt auch daran, dass in einer ferneren Zukunft mit Hilfe des schiitischen Rechtsbegriffs vom Staatsinteresse die Bastion des Tschadors geschleift werden kann. Wäre denn das nicht das Ende des islamischen Regimes? «Bei manchen Tabus haben wir das schon gedacht», bemerkt sarkastisch eine Journalistin, «und das Regime ist immer noch da.» In Dizin singt lauthals ein betrunkener Skiläufer, der mitten auf der Piste gestürzt ist: «Ich habe gewartet auf dich, die ganze Nacht gewartet.» Als ihm sein Freund wieder auf die Bretter hilft, sagt er mit persischer Höflichkeit: «Ghorban-e shoma! Ich bin Ihr Opferlamm.» Morgen wird er wieder ordentlich in seinem Büro sitzen, Formulare ausfüllen oder Verträge aufsetzen. Ob er mit seinem Lied die Liebe oder die Freiheit meinte?
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