Basler Zeitung (CH), 26.2.2000 Iran vor dem Experiment einer islamischen Demokratie Von Faraj Sarkohi Das Ergebnis der iranischen Parlamentswahl ist von grosser Bedeutung: Nach der Niederlage der konservativen Kräfte kann Präsident Khatamis Regierung mit der ebenso reformerischen Parlamentsmehrheit ein noch unklar definiertes Konzept umsetzen: die islamische Demokratie. Dazu ein Text des iranischen Schriftstellers Faraj Sarkohi. Mit ihrem Votum vom 18. Februar hat Irans junge Generation der Wahl ihrer Väter vor 21 Jahren eine Absage erteilt. Fundamentalisten und Konservative haben bei der Parlamentswahl höchstens sechs bis sieben Prozent der Sitze erreicht. Diese Niederlage hat eine tiefere Bedeutung als nur die einer Wahlschlappe. Vor 21 Jahren ist die islamische Regierung mit der Unterstützung einer Mehrheit der iranischen Bevölkerung an die Macht gekommen und hat eine Welle islamistischer Bewegungen auf der gesamten Welt ausgelöst. Die Herrschenden versprachen, eine göttliche Regierung zu verwirklichen, das Land auf der Basis der islamischen Gesetzgebung (Scharia) zu leiten und Freiheit und himmlische Gerechtigkeit auf Erden zu schaffen. Für viele Muslime war die Islamische Republik Iran Vorbild einer auf islamischer Ordnung basierenden Regierung - ein 1400 Jahre alter muslimischer Traum. Die Absage der iranischen Bevölkerung an den Gottesstaat und an die Herrschaft der Geistlichen bei den letzten Präsidentschafts- und jetzigen Parlamentswahlen wird einen tiefen Einfluss auf die Zukunft Irans, des Nahen und Mittleren Ostens und islamistische Bewegungen in der gesamten islamischen Welt ausüben. Eine islamische «Reformation» Mohammed Khatami, der von Reformen innerhalb des islamischen Systems spricht, hat mit Losungen zu Bürgergesellschaft, Rechtsstaatlichkeit und islamischer Demokratie bei der Wahl im Mai 1997 mehr als 20 Millionen Wählerstimmen erhalten. Jetzt interpretieren viele seiner jungen Sympathisanten, die als linke und radikale Reformer bekannt sind, seine Wahllosungen im Sinne einer Trennung von Religion und Staat. Nach der Interpretation dieser einflussreichen Gruppe, die die Mehrheit der Bevölkerung, besonders der Jugendlichen und Frauen, und sogar eines Teils der Geistlichen umfasst, drücken die göttlichen Ideale die persönliche und emotionale Beziehung von Mensch und Gott aus und beziehen sich nicht auf eine bestimmte Regierungsform. Sie möchten, dass die demokratische Mehrheitsentscheidung der Bevölkerung an die Stelle des geforderten Gehorsams gegenüber göttlichen Befehlen - basierend auf der Interpretation der herrschenden Geistlichen - tritt. Dies bedeutet eine islamische «Reformation» und die Rückführung des Islams aus dem öffentlichen Bereich in die Privatsphäre. Die Unterstützung der Bevölkerung für diese Gruppe, die bei den Parlamentswahlen deutlich wurde, und die Popularität nicht-religiöser und regierungsunabhängiger liberaler Bewegungen, denen die Teilnahme nicht gestattet wurde, wird die Zukunft des Islam im politischen und gesellschaftlichen Bereich bestimmen. Der religiöse Führer, Ayatollah Ali Khamenei, verfolgt ebenfalls ein schier unerreichbares Ziel. Nach dem Grundgesetz ist der religiöse Führer der Befehlshaber der Streitkräfte, der Revolutionsgarden (Pasdaran) und der Polizei, er bestimmt den Leiter des Justizwesens sowie der Radio- und Fernsehanstalten und besitzt noch zahlreiche weitere Befugnisse. Seit dem Tage jedoch, an dem Khamenei vom Expertenrat als religiöser Führer (Rahbar) bestimmt wurde, haben andere Geistliche seine religiöse Autorität und Legitimität sowie seine Vollmachten angefochten. Innerhalb der schiitischen Religion muss jeder Gläubige einen Mujtahed, einen höherrangigen religiösen Geistlichen, wählen, dem er folgt. Die meisten Iraner, die sich ihren Glauben bewahrt haben, folgen als Mujtahed dem dissidenten, unter Hausarrest stehenden Ayatollah Hussein Montazeri, der Reformen unterstützt und eine Veränderung des Grundgesetzes und die Einschränkung der Befugnisse des religiösen Führers fordert. Die Rolle Khameneis Die Spaltungen innerhalb staatlicher Organe und Institutionen sind so gross, dass sogar die Mehrheit der Pasdaran, denen die Wahrung der Islamischen Republik untersteht, bei den Präsidentschaftswahlen ihre Stimme Khatami gegeben haben. Die Spaltungen haben sich so stark ausgeweitet, dass sie den gezielten Einsatz der verschiedenen Organe zur Unterdrückung der Bevölkerung - Pasdaran und Armee, Polizei - unmöglich werden liessen. Der religiöse Führer Khamenei, in der westlichen Presse fälschlicherweise als Fundamentalist bezeichnet, hatte bereits vor den Parlamentswahlen beschränkte Reformen befürwortet. Jetzt, da die Fundamentalisten, Konservativen und rechten Reformer vom Flügel des früheren Präsidenten Hashemi Rafsanjani das Spiel verloren haben und die Mehrheit der Bevölkerung Demokratie und Bürgergesellschaft fordert, bemüht sich der religiöse Führer verstärkt, durch die moderate Unterstützung von Reformen das Erbe seines Vorgängers und Lehrers Ayatollah Khomeini, das instabile Gleichgewicht von Republik und Islam so weit wie möglich zu wahren. Ein Paradox und Rätsel, das selbst durch den Bezug auf eine göttliche Herrschaft nicht gelöst werden kann. In seiner Amtszeit hat Präsident Khatami noch keine nicht-religiöse und regierungsunabhängige Gruppierung, Partei oder Gewerkschaft zugelassen. Sogar die «Nationale Front» (Jebheh Melli), ein Zusammenschluss nationaler liberaler und sozialdemokratischer Parteien mit mehr als 50 Jahren politischer Vergangenheit, und die «Freiheitsbewegung» (Nehsate-Eslami), eine liberale religiöse Partei, deren Anführer der erste Premierminister der Islamischen Republik, Bazargan, war, sind nicht offiziell anerkannt. Für Nichtreligiöse, die keinem Flügel der Regierung angehören, gibt es kein Feld für politische Betätigung. Frauendiskriminierung abbauen Die Bestimmung der Grenzen politischer Freiheit stellt eine schwierige Herausforderung an die Reformer dar. Gesetze zu den islamischen Kleidervorschriften, der Vormundschaft der Kinder, dem ungleichen Erbe und dem Ausschluss von Frauen von der Ausübung des Richteramtes sind Bestandteil der geschlechtsspezifischen Diskriminierung von Frauen. Im Strafgesetz zählt eine Frau nur als halber Mensch. Die Reformer haben versprochen, dass ein liberaler Islam einem Teil der geschlechtsspezifischen Diskriminierung ein Ende setzen wird. Aber auch auf diesem Gebiet gibt es in ihren Reihen verschiedene Ansichten. Iran leidet unter Inflation (20 Prozent nach offiziellen, 30 Prozent nach unabhängigen Quellen), Arbeitslosigkeit (50 Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter), wirtschaftlicher Stagnation und einem hohen Bevölkerungsanteil junger Menschen (30 Millionen von 62 Millionen sind unter 25 Jahre alt). Es herrscht eine institutionalisierte Korruption, und das Vermögen des Landes liegt in den Händen einer kleinen Minderheit, die aus der Schattenwirtschaft Nutzen ziehen konnten (vor zehn Jahren gab die Zentralbank bekannt, dass 33 Prozent des Barvermögens in den Händen von rund 90 Personen liegt). Die Regierung hofft, durch die Schaffung von Rechtssicherheit, den Aufbau von Beziehungen zu Amerika, die Verbesserung der Beziehungen zu anderen westlichen Ländern und die Rückkehr Irans in die internationale Gemeinschaft den Weg für ausländische Investitionen zu öffnen. Die strategische Lage Irans innerhalb der Länder Mittel- und Zentralasiens und die Öl- und Gasressourcen geben ebenfalls Anlass zur Hoffnung. Die Reformer haben aber bis jetzt noch kein wirtschaftliches Programm vorgelegt. Grosse Widersprüche Fragen der Menschenrechte und nach gesellschaftlicher und kultureller Freiheit stellen eine weitere Herausforderung für die Reformer dar. Insbesondere die Jugendlichen fordern, dass Staat und Religion nicht länger ihr Privatleben überwachen und kontrollieren. Das Verbot des Empfangs von Satellitenprogrammen, von Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen sowie von alkoholischen Getränken wie die staatliche Kontrolle der Art der Freizeitbeschäftigung sind die Hauptgründe für die breite Unzufriedenheit. Im Rahmen des Islams - auch in der Lesart religiöser Reformer - ist die Erfüllung dieser Wünsche und Ansprüche nur schwer möglich. Die Widersprüche des Grundgesetzes zu den Forderungen nach Bürgergesellschaft und Rechtsstaatlichkeit - und sogar zu den Mindestforderungen der religiösen Reformer sind gross. Die Befugnisse des religiösen Führers und des Wächterrates - der gegen die Beschlüsse des Parlaments sein Veto einlegen kann und die Zulassung von Kandidaten zur Wahl festlegt - gehören zu den Punkten im Grundgesetz, deren Erneuerung ein Teil der Reformpolitiker fordert. Das erste Jahrzehnt nach der Islamischen Revolution von 1979 war gekennzeichnet vom Despotismus Khomeinis und einer staatlichen Planwirtschaft. Das zweite Jahrzehnt bestimmte die oligarchische Tyrannei der Mullahs und eine übertriebene Privatisierung. Heute spricht man vom Übergang Irans zu einer islamischen Demokratie - ein Ausdruck, den bisher noch niemand genau definiert hat. Seit den Präsidentschaftswahlen sind bald drei Jahre vergangen. Nun ist die Zeit gekommen, da die islamische Demokratie ihre Umsetzung in die Realität zeigen muss. Den Alltag verbessern Jetzt erwarten die Menschen, dass das sechste Parlament und der Präsident die wirtschaftliche Krise in den Griff bekommen. Man erhofft sich vor allem grössere soziale Sicherheit und eine Verbesserung der Lebensumstände eines grossen Teils der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt. Gesellschaftliche Freiheit im Sinne der Aufhebung staatlicher und religiöser Einmischung in das private und kulturelle Leben, der Abbau der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die Verbesserung der Lage der Jugendlichen gehören ebenfalls zu den grundlegenden Forderungen. Die Menschen verlangen nun den Aufbau einer zivilen Gesellschaft mit einer geringeren Bedeutung der Religion, mit Meinungs- und Pressefreiheit, mit der Zulassung regierungsunabhängiger Organisationen, der Abschaffung von Sondergerichten (wie das Gericht für Geistliche und das Revolutionsgericht) und dem Ausbruch Irans aus der Isolation. Viele sind der Überzeugung, dass diese Forderungen nur durch eine Änderung des Grundgesetzes in die Tat umgesetzt werden können. Die religiösen Reformer argumentieren, dass dies alles innerhalb des islamischen Systems und des Grundgesetzes möglich ist. Eine Herausforderung, die in den nächsten Jahren die Zukunft Irans bestimmen und die islamischen Bewegungen weltweit massgeblich beeinflussen wird. Den Text aus dem Persischen übersetzt hat Sabine Kalinock.
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