Tagesspiegel, 1.3.2000 Ankara lässt kurdische Bürgermeister frei Türkische Regierung zieht Konsequenz aus dem innen- und außenpolitischen Druck Thomas Seibert Noch vor ein paar Tagen hätte es sich Feridun Celik wohl kaum träumen lassen, jemals wieder an seinen Schreibtisch im Rathaus der südosttürkischen Provinzhauptstadt Diyarbakir zurückkehren zu können. Mit einem zufriedenen Lächeln setzte sich der Bürgermeister von der pro-kurdischen Partei Hadep am Dienstag vor laufenden Kameras in den Chefsessel seines Dienstzimmers und erklärte staatsmännisch, alleiniger Gewinner der überstandenen Episode sei die Demokratie. Celik, der mit seinen Amtskollegen aus Bingöl und Siirt neun Tage lang unter dem Verdacht der Komplizenschaft mit den kurdischen PKK-Rebellen festgehalten worden war, schlug bewusst versöhnliche Töne an. Er weiß, dass er als Hadep-Politiker nach wie vor unter kritischer Beobachtung steht. Dennoch zeigen die Freilassung und die politische Rehabilitierung der kurdischen Bürgermeister, dass die Türkei die Proteste aus dem In- und Ausland ernst genommen hat: Neun Tage nach den Festnahmen zog Ankara die Notbremse. Die Inhaftierung der frei gewählten Politiker hatte die türkische Regierung in eine unangenehme Position gebracht. Der Koalitionspolitiker und Ex-Ministerpräsident Mesut Yilmaz räumte ein, selbst die Regierung sei von den Festnahmen überrascht worden. Justizminister Hikmet Sami Türk sagte, er sei mit der Art und Weise der als Anti-Terror-Einsatz inszenierten Festnahmen nicht einverstanden. Die Sicherheitsbehörden im türkischen Südosten, der wegen des PKK-Krieges nach wie vor unter Kriegsrecht steht, hatten offenbar auf eigene Faust gehandelt. Sie wollten der Hadep sowie der in- und ausländischen Öffentlichkeit klarmachen, dass sie es der PKK nicht erlauben werden, sich nach dem Ende des Krieges als legale politische Bewegung zu etablieren - sei es als PKK oder über die Hadep. Die Sicherheitskräfte konnten dabei darauf zählen, dass in Ankara zumindest die Motive für ihre Aktion auf viel Verständnis stoßen würden Tatsächlich enthob Innenminister Sadettin Tantan die festgenommenen Bürgermeister umgehend ihrer Ämter. Nun zog Tantan plötzlich seine Entscheidung wieder zurück und ermöglichte Celik und seinen Kollegen die Rückkehr in die Rathäuser - obwohl das zuständige Gericht in Diyarbakir nicht die Strafvorwürfe gegen die Bürgermeister verworfen, sondern lediglich die vorläufige Entlassung aus der Haft angeordnet hatte. Angesichts dieses "Schlingerkurses", wie es die Boulevard-Zeitung "Sabah" ausdrückte, ging die türkische Presse am Dienstag hart mit den Behörden ins Gericht. Die angesehene Zeitung "Cumhuriyet" etwa fragte, warum die Behörden bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr keinen Einspruch gegen die Kandidatur der drei Politiker erhoben, wenn sie so klare Beweise für deren PKK-Komplizenschaft hatten, wie sie behaupteten. Tatsächlich ist es ungewöhnlich, dass kurdische oder islamistische Politiker in der Türkei, die einmal ins Visier der Behörden geraten sind, mit ein paar Tagen Haft davonkommen. Dass es diesmal doch so war, liegt an der massiven Kritik aus dem In- und Ausland. In Diyarbakir und anderen Städten gab es fast täglich Protestkundgebungen. Der Zeitung "Radikal" zufolge sollte die Freilassung der Kommunalpolitiker auch dazu beitragen, die Stimmung im Kurdengebiet drei Wochen vor dem kurdischen Neujahrsfest Newroz am 21. März zu beruhigen. Außenpolitisch machten nach Einschätzung diplomatischer Beobachter vor allem die Proteste aus den USA Eindruck auf Ankara. Washington hält sich normalerweise mit Kritik an der türkischen Kurdenpolitik sehr zurück. Diesmal aber ließ die US-Regierung ihre türkischen Verbündeten unmissverständlich wissen, dass die Festnahme gewählter Volksvertreter etwas anderes sei als die Bekämpfung von Terroristen. Mit der Wiedereinsetzung der Bürgermeister in ihre Ämter hat Ankara einen gesichtswahrenden Ausweg aus dem Dilemma gefunden, nach dem Motto: Schwamm drüber. Bürgermeister Celik hat die Botschaft verstanden. Bei seiner Rückkehr ins Rathaus nannte er keine Schuldigen. Stattdessen versicherte er, die Ereignisse der vergangenen Tage habe "niemand erwartet oder gewollt".
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