Süddeutsche Zeitung, 4.3.2000 "Ihr ganzer Körper war voller Blut" Wurde Andrea Wolf von türkischen Soldaten ermordet? Der Verdacht, dass die deutsche PKK-Aktivistin nicht im Kampf fiel, bestand schon länger - jetzt bestätigt ihn eine Zeugin / Von Michael Stiller Ende Oktober 1998 beginnt die kurdische PKK in der Gegend von Beytüssebap in der türkischen Region Van ihre Guerillalager aufzulösen - der Winter naht. Einheiten werden neu zusammengestellt. In einer befindet sich die 33-jährige Münchnerin Andrea Wolf, die sich 1996 der PKK angeschlossen und den kurdischen Namen "Ronahi" angenommen hat. Sie hat Deutschland verlassen, weil die Bundesanwaltschaft sie der Zugehörigkeit zur Roten Armee Fraktion (RAF) und der Teilnahme an der Zerstörung des Gefängnis-Neubaus in Weiterstadt bezichtigt. Die Vorwürfe hat sie stets bestritten, das Ermittlungsverfahren wird später eingestellt. Ihre Einheit macht sich am 20. Oktober auf den Weg. Dass wegen der Flucht des PKK-Chefs Abdullah Öcalan eine Großoffensive der türkischen Armee im Gang ist, ahnen die PKK-Kämpfer nicht. Sie geraten im Gebirge südlich des Van-Sees zwischen die Linien der Soldaten, werden in Gefechte verwickelt, eingekesselt, von Hubschraubern angegriffen. Am 24. Oktober ist der ungleiche Kampf zu Ende. Die PKK-Einheit ist fast vollständig aufgerieben. Andrea Wolf ist tot. "Keine Hinweise auf den Verbleib" Am 28. Oktober 1998 meldet der kurdische Sender Med. TV, dass Andrea Wolf zusammen mit weiteren PKK-Aktivistinnen nicht im Gefecht gefallen, sondern von den türkischen Soldaten unbewaffnet gefangen genommen, verhört, misshandelt und getötet worden sei. Eine solche Exekution widerspräche allen internationalen Regeln über den Umgang mit Gefangenen und müsste als kaltblütiger Mord verfolgt werden. Die Freunde der jungen Frau in Deutschland beginnen Informationen zu sammeln. Sie bilden einen breit angelegten Unterstützerkreis und eine Kommission, die den Tod aufklären soll. Andrea Wolfs Mutter schaltet die Münchner Anwältin Angelika Lex ein. Die türkischen Behörden erklären lapidar, sie hätten "keine Hinweise auf den Verbleib von Frau Wolf". Doch schon die ersten Protokolle von Überlebenden des Massakers bei Beytüssebap enthalten viele Anhaltspunkte, dass Andrea Wolf den Soldaten lebend in die Hände gefallen ist. Auch dem Auswärtigen Amt scheinen die Angaben so glaubhaft, dass in Ankara diplomatischer Protest eingelegt und der türkische Botschafter in Bonn um lückenlose Aufklärung gebeten wird. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft eröffnet unter dem Aktenzeichen 50 UJS/5389/98 ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt. Da ein Todesnachweis fehlt, lassen sich die Sicherheitsbehörden aber auch nicht von ihrem Verdacht abbringen, Andrea Wolf habe ihren Tod nur vorgetäuscht, um mit neuer Identität in Europa wieder aufzutauchen und den bewaffneten Widerstand nach PKK-Muster aufzunehmen. Die von der Kommission gesammelten Aussagen haben den Nachteil, dass sie zum Schutz der Informanten weitgehend anonymisiert und damit nicht gerichtsfest sind. Jetzt hat sich nach Angaben von Angelika Lex "eine völlig andere Beweissituation ergeben. Es gab jetzt erstmals einen persönlichen Kontakt zu einer Augenzeugin des Geschehens, die über mehrere Stunden befragt werden konnte und das bestätigt, was uns bislang über das Gefecht, die Verhaftung und anschließende Tötung von Andrea Wolf berichtet wurde". In einem größeren Erdloch verborgen war die Frau dem Gemetzel entgangen, konnte das Geschehen aber akustisch verfolgen und fand nach dem Abzug des Militärs die Toten - auch ihre Freundin Ronahi. Sie hatte die im Kampf unerfahrene Deutsche, die noch nie in ein Gefecht verwickelt war, vor den näher kommenden Soldaten und herandonnernden Kobra-Helikoptern hinter einem Felsbrocken versteckt, ehe sie in die Höhle kroch. Dort bekam sie mit, dass die Überlebenden festgenommen und verhört wurden. "Ich erkannte die Stimme von Ronahi (. . .) Ich verstand nichts. Aber ich hörte sie laut auf Deutsch schreien, ihre Stimme war wütend. Ich hörte sie schreien wie jemand, dem man fürchterlich weh tut, den man foltert", heißt es in der Übersetzung des Dokuments. Die Soldaten sprachen über Andrea Wolfs Notiz-Hefte, die sie stets mit sich führte. Irgendwann hörte die Zeugin im Erdloch eine Salve. Später sah sie die Leichen. Ein Weg zum Massengrab "Genossin Ronahi lag lang ausgestreckt auf dem Boden", berichtet die Zeugin. "Ihre Haare waren offen. Die Guerillakleidung hatte man ihr ausgezogen, sie trug nur noch Unterhemd und Unterhose (. . .) Es sah aus, als wäre sie gewürgt worden (. . .) Ihr ganzer Körper war voller Blut. Das Hemd, das sie trug, war schon ganz starr. Ihr Kopf war ebenfalls voller Blut (. . .) Sie wurden alle in einem Grab bestattet". Das elfseitige Interview liegt inzwischen der Frankfurter Staatsanwaltschaft vor, zum Schutz der Augenzeugin zunächst ohne Angaben zur Identität. Doch wäre jetzt erstmals die Vernehmung einer Zeugin durch deutsche Behörden möglich, wenn sie an sicherem Ort unter Wahrung der Anonymität stattfände. Da die Angaben der Zeugin sehr präzise sind, könnten - ein Ermittlungsinteresse der Türkei vorausgesetzt - auch der Ort des grausigen Geschehens und das Massengrab gefunden, die Überreste exhumiert werden. Mittlerweile betreibt die bekannte türkische Anwältin Eren Keskin im Auftrag von Andrea Wolfs Mutter ein Ermittlungsverfahren in der Türkei, damit der Weg zur Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte frei wird. Von Außenminister Joschka Fischer erwartet Angelika Lex, dass die neuen Erkenntnisse neue diplomatische Aktivitäten zur Aufklärung des Tods von Andrea Wolf zur Folge haben.
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