Tagesspiegel, 4.3.2000 EU-Kandidat Türkei "Der Prozess ist der eigentliche Skandal" - Claudia Roth über die Freilassung der kurdischen Bürgermeister und das Verhältnis von EU und Türkei Claudia Roth (44) ist Bundestagsabgeordnete der Grünen und Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses. Was bedeutet es für die Menschenrechtspolitik, dass die Türkei im Fall der kurdischen Bürgermeister dem internationalen Druck nachgegeben hat? Das bedeutet noch nicht viel. Die Türkei hat die Bürgermeister nur aus der Haft entlassen, aber das ist eine rein kosmetische Sache. Entscheidend ist doch, dass das Verfahren gegen sie aufrecht erhalten wird. Der Prozess ist der eigentliche politische Skandal. Dahinter steht zum einen der Versuch, eine Art Berufsverbot für unliebsame Bürgermeister durch die Hintertür einzuführen. Zum anderen ist es ein deutlicher Hinweis dafür, dass eine der Schlüsselfragen der Demokratisierung der Türkei noch lange nicht geklärt wird, nämlich die politische Lösung der Kurdenfrage. Den Bürgermeistern drohen bei Verurteilung lange Haftstrafen. Sollte die Bundesregierung sich daher weiterhin für sie einsetzen? Natürlich, und das werden wir auch tun. Wenn die demokratisch gewählten Bürgermeister kriminalisiert und damit auch ihrer Ämter beraubt werden, ist das heftig zu kritisieren, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen - sei es von der Bundesregierung, die auch auf die Verhaftung reagiert hat, oder von Seiten des Menschenrechtsausschusses. Die Bürgermeister haben für eine politische Lösung der kurdischen Frage geworben. Es wird allerhöchste Zeit, dass dieses Angebot endlich von offizieller türkischer Seite angenommen wird und der Krieg nicht in der Form fortgesetzt wird, wie es in den letzten Tagen passiert ist. Wie bewerten Sie die gegenwärtige Menschenrechtslage in der Türkei? Die Ansätze für eine positive Veränderung haben einen herben Rückschlag erlitten. Die Verhaftung und Kriminalisierung von legal gewählten Vertretern der kurdischen Bevölkerung zeigt, dass die türkische Regierung noch weit davon entfernt ist zu verstehen, was die Kopenhagener Kriterien bedeuten. Wie stehen die Chancen der Türkei, in absehbarer Zeit Mitglied der EU zu werden? Es muss sowohl hier bei uns als auch in der Türkei klar sein, dass der Kandidatenstatus kein Blankoscheck ist, in dem bestätigt wird, dass die Türkei eine Demokratie geworden ist. Der Kandidatenstatus eröffnet erst eine politische Dynamik hin zu einer Beitrittsperspektive. Dazu gehören klare Kriterien im Bereich der Menschen- und Minderheitenrechte. Und bis zu deren Einhaltung ist es noch ein weiter Weg. Welche Auswirkungen hätte ein Verbot der Hadep-Partei auf die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei? Bei einem Verbot der Hadep wäre der Weg zur Beitrittsperspektive in die EU noch sehr viel steiniger. Die kurdische Frage wird sich nur im offenen politischen Dialog lösen lassen, und da gehört die kurdische Partei Hadep als wichtiger Gesprächspartner dazu. Wie kann die EU den Demokratisierungsprozess in der Türkei wirksam unterstützen? Der Wiederaufbau in den zerstörten kurdischen Provinzen sollte unterstützt werden. Wichtig ist es auch, die zivile Gesellschaft insgesamt zu stärken, sei es indem man Rechtsanwaltskammern bei der Ausbildung von Juristen hilft oder Nichtregierungsorganisationen wie den türkischen Menschenrechtsverein und die Menschenrechtsstiftung unterstützt. Das ist allemal sinnvoller, als Panzer zu liefern. Das Interview führte Claudia von Salzen.
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