Neue Zürcher Zeitung, 4. März 2000 Türkische Ambivalenz gegenüber dem Kaukasus Tschetschenen-Flüchtlinge an der georgischen Grenze blockiert Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte Ankara versucht, seine Bindungen in den Kaukasus sowie nach Zentralasien auszudehnen. Von dieser Solidarität mit den Turkvölkern ist heute wenig übriggeblieben. Die Regierung Ecevit steuert, wie sich am Beispiel abgewiesener Flüchtlinge aus Tschetschenien zeigt, einen realpolitischen Kurs. it. Istanbul, 3. März Eine rund 100 Personen umfassende Gruppe tschetschenischer Flüchtlinge hat Mitte Februar die türkisch-georgische Grenze erreicht und um Einreise in die Türkei nachgesucht. Zur grossen Enttäuschung der Flüchtlinge verweigerten die türkischen Beamten am Grenzübergang das Begehren. Die Türkei könne nur Inhaber gültiger Reisedokumente ins Land einreisen lassen, lautete die offizielle Begründung. Aus Protest verharrten die Flüchtlinge während zehn Tagen im gebirgigen und verschneiten Grenzgebiet. Türkische Reporter meldeten, dass es sich hauptsächlich um Kinder, Frauen und ältere Leute handelte. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion galt die Türkei manchen muslimischen Bewohnern des Kaukasus als möglicher Zufluchtsort in harten Zeiten. Überraschende Abweisung Unter dem Druck der zahlreichen Organisationen von Türken kaukasischer Herkunft musste Ministerpräsident Ecevit Stellung zur Frage der abgewiesenen Tschetschenen beziehen. Die Türkei werde den Flüchtlingen so gut wie möglich beistehen, sagte er vor einer Woche. Die Tschetschenen sollten aber in einem der Flüchtlingslager auf georgischem Boden untergebracht werden. Georgien reagierte auf den türkischen Vorschlag mit Zurückhaltung. Derzeit befänden sich rund 10 000 tschetschenische Flüchtlinge in Georgien, erklärte der georgische Innenminister Targamadze. Sie lebten unter entsetzlichen Umständen, weil Georgien bereits für 350 000 aus Abchasien vertriebene Personen sorgen müsse und als armes Land über keine weiteren Mittel verfüge. Von den 10 000 tschetschenischen Flüchtlingen wünschen höchstens 2000 in die Türkei zu gehen. Doch die Tore der Türkei bleiben verschlossen. Laut Angaben des Gouverneurs der Grenzprovinz Ardahan, Ayhan Nasuhbeyoglu, sind die Flüchtlinge am vergangenen Wochenende vom türkisch-georgischen Grenzübergang aus in ein Lager im Innern Georgiens transportiert worden. Der türkische Rote Halbmond hat zwei Lastwagen mit Hilfsgütern zu ihren Gunsten nach Georgien entsandt. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben türkische Politiker immer wieder die religiösen, historischen und kulturellen Bindungen zwischen der Türkei und den turksprachigen Völkern Zentralasiens und des Kaukasus unterstrichen und sich in der Rolle einer Schutzmacht gesehen. Während des letzten Tschetschenien- Kriegs zwischen 1994 und 1996 kam es landesweit zu Protestdemonstrationen gegen die Russen, und tschetschenische Flüchtlinge wurden geradezu als Nationalhelden begrüsst. Ankara begründete die heftigen emotionalen Reaktionen der Öffentlichkeit oft damit, dass in der Türkei schätzungsweise sieben Millionen Bürger kaukasischer Herkunft lebten. Seither hat die Stimmung offensichtlich umgeschlagen, und Ankara ist darauf bedacht, Moskau nicht mit allzu kritischen Kommentaren zu brüskieren. Die Verbände der Kaukasier in der Türkei beklagen sich darüber, dass Demonstrationen von den Behörden unterbunden werden. Die Abweisung der tschetschenischen Flüchtlinge und das Schweigen Ankaras widerspiegeln eine Angst, mit einem neuen Flüchtlingsstrom konfrontiert zu werden. Ende der achtziger Jahre sind rund 60 000 Kurden und Turkmenen vor den Schergen des irakischen Herrschers geflohen und haben im türkischen Südosten Zuflucht gesucht. Kurz danach strömten über 300 000 Türken aus Bulgarien ins Land, weil die kommunistische Regierung in Sofia ihnen ihre kulturelle Eigenständigkeit verweigert hatte. Nach dem Golfkrieg 1991 folgte der Massenexodus der nordirakischen Kurden, die zu Tausenden ins irakisch-türkische Grenzgebiet strömten. Gespaltene Koalition Die türkische Presse spricht in Zusammenhang mit den abgewiesenen tschetschenischen Flüchtlingen von einer ambivalenten Kaukasus-Politik Ankaras. Die Nationalistische Aktionspartei (MHP), der zweitstärkste Koalitionspartner in der Regierung, tritt für eine starke, türkische Präsenz im Kaukasus ein. MHP-Mitglieder betrachten den Kaukasus als Erbe des osmanischen Reiches und halten eine enge Zusammenarbeit zwischen Ankara und den kaukasischen Völkern für eine Selbstverständlichkeit. Der für die Beziehungen zu den turksprachigen Republiken zuständige Staatsminister, Abdulhaluk Cay, ein Mitglied der MHP, plädierte vor kurzem für die Schaffung eines auf ethnische Basis abgestützten türkischen Commonwealth im Kaukasus und in Zentralasien, das einen gemeinsamen Kampf gegen die Russen führen solle. Dass die tschetschenischen Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen wurden, löste in MHP-Kreisen bittere Kritik aus. Im Gegensatz zu seinem Koalitionspartner vertritt Ministerpräsident Ecevit eine sehr bedachtsame Haltung gegenüber Moskau. Ecevit ist überzeugt davon, dass sich die Türkei im Kaukasus einen Konkurrenzkampf mit Russland nicht leisten kann und deshalb eine Zusammenarbeit mit Moskau anstreben muss. Im vergangenen November geriet er in der Türkei unter Beschuss, nachdem er in Moskau ein Abkommen zur Bekämpfung von Terrororganisationen unterzeichnet hatte. Der Vertrag soll verunmöglichen, dass tschetschenische Rebellen auf türkischem Territorium Unterschlupf finden oder militärische Ausbildung erhalten. Andererseits garantiert Moskau, Angehörigen der Kurdischen Arbeiterpartei PKK auf russischem Territorium keinen Spielraum zu gewähren. Die tschetschenischen Flüchtlinge wurden denn auch offenbar auf eine Intervention Ecevits hin abgewiesen. Kontrolle über das kaspische Erdöl Präsident Demirel versucht die entgegengesetzten Positionen der Koalitionspartner auszubalancieren. Als grösstes Ziel seiner langen politischen Karriere betrachtet er den Bau einer doppelt geführten Pipeline für Öl und Gas aus dem Kaspischen Becken durch den Kaukasus in die Türkei bis ans Mittelmeer, bekannt als Baku-Ceyhan- Projekt. Die Geschichte verpflichte die Türkei, auf dem Kaukasus präsent zu sein, erklärte er Mitte Januar, als er zu Gesprächen mit dem georgischen Präsidenten Schewardnadse in Tbilissi weilte. Damals schlug er einen Stabilisierungspakt für den Kaukasus vor, bei dem allerdings Tschetschenien diskret ausgeklammert wurde. Die Türkei stelle die Souveränität Russlands nicht in Frage und wolle sich nicht in interne Angelegenheiten des Nachbarlandes einmischen, beteuerte Demirel gegenüber dem stellvertretenden russischen Premierminister Klebanow, der am Dienstag Ankara besucht hatte. Der russische Besucher wiederum erklärte, sein Land bringe dem türkischen Projekt eines Stabilisierungspakts für den Kaukasus Wohlwollen entgegen. Die Tschetschenen sehen sich als Opfer dieses Ausdrucks gegenseitiger Wertschätzung, hinter der sich das Ringen über die Kontrolle der Energieressourcen des Kaspischen Beckens verbirgt. Die tschetschenische Bevölkerung habe bereits beim letzten und nun auch beim derzeitigen Waffengang sehr viele Opfer erbracht, um der Türkei bei der Realisierung der Baku-Ceyhan- Pipeline behilflich zu sein, erklärte verbittert der tschetschenische «Aussenminister» Ahmedow Mitte Januar auf dem Weg nach Washington während eines Zwischenhalts in der Türkei. Seine Regierung hätte erwartet, dass die Türkei, anstatt zu schweigen, wenigstens die blutige Kampagne der Russen gegen die Zivilisten verurteilen würde, fügte er hinzu. Doch Ecevit liess sich von seinem realpolitischen Kurs nicht abbringen und hat sich gar geweigert, den tschetschenischen Politiker auch nur zu empfangen.
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