Hannoversche Allgemeine Zeitung, 9.3.2000 AKW ins Erdbebengebiet? Seit Jahrzehnten träumt die Türkei den Traum vom eigenen Atomkraftwerk. Mit der Vergabe des Bauauftrags will ihn Ankara jetzt verwirklichen. Doch Geologen und Umweltschützer warnen: Der geplante Standort liegt offenbar in einer Erdbebenzone. Die Politiker in Ankara sind wild entschlossen, ihr Land ins Atomzeitalter zu führen. Noch in dieser Woche will die staatliche Energiebehörde Teas den Bauauftrag für den Atommeiler in der Bucht von Akkuyu an der Südküste der Türkei vergeben. Um den Milliarden-Auftrag bewerben sich drei internationale Anbieter, darunter das Konsortium Nuclear Power International (NPI) aus Deutschland und Frankreich, dem das Technologie-Unternehmen Siemens und die Baufirma Hochtief angehören. In diesem Winter musste in den großen Städten des Landes trotz bitterer Kälte stundenweise der Strom abgestellt werden, weil das aus Russland gelieferte Erdgas nicht ausreichte, um die Elektrizitätswerke in Betrieb zu halten. "Wir haben Computer, aber keinen Strom", höhnten die Zeitungen in Anspielung auf die Ankündigungen der Politiker, das Land zu modernisieren. In Zukunft will die türkische Regierung solche peinlichen Situationen vermeiden. Deshalb wird am Beschluss zum Bau des Kraftwerkes in Akkuyu nicht gerüttelt. Jedenfalls bisher nicht. Die türkische Öffentlichkeit, durch die Erdbeben im vergangenen Jahr sensibilisiert, wurde durch neue Berichte über die Bebengefahr um Akkuyu aufgeschreckt. So soll die Regierung ein Expertengutachten unter Verschluss halten, das die 1990 vorgenommene Erdbebenuntersuchung des Kraftwerksgeländes als unzureichend kritisiert und neue Überprüfungen fordert. Nur 20 bis 25 Kilometer vom Standort entfernt ist nach Ansicht von Forschern eine seismisch aktive Zone. "Akkuyu-Panik", titelte die angesehene Zeitung "Cumhurriyet" deshalb erst kürzlich. Selbst in der Partei von Ministerpräsident Bülent Ecevit, die gemeinhin nicht für Kritik an den Beschlüssen ihres Vorsitzenden bekannt ist, regt sich Widerstand. Das ist Wasser auf die Mühlen der Atomgegner. Sie weisen darauf hin, dass in der Nähe Akkuyus tektonische Verwerfungslinien verlaufen, was ein Zeichen für die Erdbebengefahr in der Gegend sei. Besonders die Umweltschutzorganisation Greenpeace hat sich mit Protestaktionen gegen das Kraftwerk hervorgetan; Greenpeace wirft Ankara vor, die Energieversorgung des Landes mit einer überholten und gefährlichen Technologie sichern zu wollen. Bei der Angst vor einem Erdbeben in der Nähe des Kraftwerkes schwingt auch die Sorge um das Wohl der türkischen Fremdenverkehrsindustrie mit: Die Urlauberhochburg Antalya liegt rund 300 Kilometer westlich von Akkuyu. Im Kabinett mussten deshalb vergangene Woche der Tourismus- und der Umweltminister von ihren Kollegen erst noch überredet werden, dem Atomprojekt zuzustimmen. Susanne Güsten, Istanbul, 08.03.2000
|