Tagesspiegel, 11.3.2000 Verhängnisvolle Rede Susanne Güsten Eine sechs Jahre zurückliegende Wahlkampfrede könnte dem Vater des politischen Islam in der Türkei zum Verhängnis werden. Necmettin Erbakan, der von 1996 bis 1997 als erster islamistischer Ministerpräsident das Land regierte, ist am Freitag zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Der 73-jährige Veteran ließ seine Anwälte zwar umgehend Einspruch beim Obersten Berufungsgericht in Ankara einlegen. Doch wenn diese letzte Instanz das Urteil bestätigt, bedeutet das lebenslanges Politik-Verbot für Erbakan. In der Stadt Bingöl im kurdisch besiedelten Südosten der Türkei hatte sich Erbakan 1994 mit seiner Rede nach Überzeugung des Gerichts der Volksverhetzung schuldig gemacht. Dabei ging es um eine auf den ersten Blick recht unspektakuläre Äußerung. "Früher begannen die Schüler in diesem Land den Unterricht mit der Formel ,Im Namen Allahs'", sagte Erbakan damals. "Man hat das Gebet durch den Spruch ersetzt: ,Ich bin Türke, ehrlich und fleißig.' Wenn man das sagt, werden andere sagen wollen: ,Ich bin Kurde, ehrlicher und fleißiger.'" Damit verstieß Erbakan nach dem am Freitag verkündeten Urteil des Staatssicherheitsgerichtes in Diyarbakir gegen den Paragraphen 312 des türkischen Strafgesetzbuches, der die "Aufwiegelung zu rassischem oder religiösen Hass" verbietet. Der Paragraph wird von der türkischen Justiz häufig bei der Verurteilung von Islamisten angewandt.
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