Die Presse (A), 14.3.2000 Nach Zuruf aus den USA wird Fall Erbakan neu aufgerollt Türkei. Islamistenführer Necmettin Erbakan erhielt nach seiner Verurteilung unerwartete Schützenhilfe. Von unserem Mitarbeiter JAN KEETMAN ISTANBUL. Die Verurteilung des türkischen Islamistenführers Necmettin Erbakan hält die politische Szene in der Türkei noch immer in Atem. Die Schuld des mittlerweile 73jährigen ehemaligen Ministerpräsidenten soll in Äußerungen bestehen, die er 1994 bei einer Rede im kurdischen Bingöl machte. Das Staatssicherheitsgericht in Diyarbakir sah darin einen Verstoß gegen den Paragraphen 312 des türkischen Strafgesetzbuches: "Aufstachelung des Volkes durch Hinweis auf Unterschiede der Klasse, der Rasse, Religion, Konfession oder Region zu Haß und Feindschaft." Gegen Erbakan wurde eine einjährige Gefängnisstrafe verhängt, von der er fünf Monate absitzen muß, falls das Urteil in der Berufung Bestand hat. Das ganze wäre wohl mit einem Aufschrei der Islamisten und der liberalen Presse über die Bühne gegangen. Staatspräsident Demirel hatte schon sein Verdikt dazu gegeben: "Eine Angelegenheit der Justiz." Doch dann mischte sich das Ausland ein, noch dazu die Vereinigten Staaten: US-Präsident Bill Clinton hat die Verurteilung Erbakans persönlich kritisiert. Nun sagen plötzlich alle Politiker, auch Demirel, man wolle den Paragraphen 312 - wie schon des öfteren versprochen - ändern, um Erbakan die Strafe zu ersparen. Es wird daran gedacht, einen Passus einzufügen, der eine Bestrafung nur noch dann vorsieht, wenn unmittelbare Gefahr provoziert wird. Premier Bülent Ecevit hat freilich einen Vorbehalt angemeldet. Er will erst die Wiederwahl des Staatspräsidenten Süleyman Demirel im Mai abwarten. Dafür ist eine Verfassungsänderung nötig, und für die braucht Ecevit wahrscheinlich die Islamisten. Um Demirel noch einmal eine Amtszeit zu ermöglichen, setzt Ecevit alle Hebel in Gang. Offenbar erscheint ihm sein einstiger Rivale berechenbarer zu sein als der mögliche andere Kandidat: sein Koalitionspartner, Mesut Yilmaz, Chef der Mutterlandspartei.
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