junge Welt, 14.3.2000 Was ändert sich im Iran? jW sprach mit Morad Shiorin, Redakteur der Monatszeitschrift der Iranischen Revolutionär-Sozialistischen Liga (IRSL) »Kargar-e Socialist« F: Bei den Wahlen zum Madschlis, dem iranischen Parlament, vor knapp einem Monat haben sich die sogenannten Reformer durchgesetzt. Kann man schon eine erste Bilanz ziehen? Es scheint, daß die Bevölkerung in einer Situation, in der sie keine reale Alternative zu einer der beiden Regimefraktionen hatte, versucht hat, das Beste aus einem überaus eingeschränkten Wahlprozeß zu machen. Obwohl die »Konservativen« auch mit der wahrscheinlichen Niederlage von Hashemi Rafsandschani einen weiteren empfindlichen Schlag haben einstecken müssen, verfügen sie aber immer noch über eine Vielzahl von Hebeln, um ihre Interessen zu verteidigen. So etwa den »Wächerrat«, die »Expertenversammlung«, den Geheimdienst, die Justiz oder die wichtigsten Medien. Man darf nicht vergessen, daß es zwischen beiden Fraktionen keinen grundlegenden Unterschied gibt; die konservative möchte den Prozeß der Normalisierung kapitalistischer Produktionsbeziehungen nur etwas langsamer gestalten. F: Die Volksmudschaheddin haben - teilweise gestützt auf offizielle Aussagen - behauptet, daß die Wahlbeteiligung sehr viel geringer gewesen sei als zunächst angegeben. Insgesamt sollen nur knapp 17 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen gegangen seien. Es ist mir völlig schleierhaft, wie eine Organisation, die behauptet, ihre Informationen durch ihre militärischen Strukturen im Land erhalten zu haben, zu verläßlicheren Zahlen kommen will als alle übrigen nationalen und internationalen Beobachter zusammen. Es hat Wahlfälschungen gegeben, und die wirklichen Zahlen mögen andere sein als die offiziellen. Aber niemand hat je von 17 Prozent gesprochen. Der wichtige Faktor bei diesen Wahlen war die große Beteiligung der Jugend, die einfach für mehr Freiheit im alltäglichen Leben gestimmt hat. Die fortschrittlichen Teile der Bevölkerung wissen natürlich, daß diese Hoffnungen auf Dauer betrogen werden. Für die »Reformer« war das jetzt die letzte Chance. Die Argumentation der Mudschaheddin zeigt nur, daß sie kein Programm haben, das an die Alltagskämpfe der Massen anknüpft und eine Alternative für Irans kränkelnden Kapitalismus aufzeigt. Unabhängig davon, wieviel Prozent der Wähler die Wahl boykottierten: Auch die, die wählen gegangen sind, haben nicht unbedingt aufgehört, für ihre Interessen direkt zu kämpfen. Je größer der Wahlsieg der Reformer ist, umso größer die Erwartungen und umso unvermeidlicher die Enttäuschung und weitere Kämpfe. F: Glauben Sie, daß die soziale Basis der unterlegenen Regimefraktion zerfallen wird? Je normaler der »islamische« Kapitalismus im Iran wird, um so schwächer wird die Basis des Regimes werden, und je schwächer diese Basis ist, um so offener führt der Weg zu Privatisierungen, Deregulierung und ausländischen Investitionen. Das könnte für die Massen mit großen Gefahren verbunden sein. Nationalismus könnte für diese Schichten der neue Schlachtruf werden, und es ist deshalb von jetzt an nötig, die Erkenntnis zu verbreiten, daß die Nationalität der Kapitalisten keine wichtige Sache ist. Die Arbeiter müssen für Arbeiterkontrolle kämpfen, egal ob die Industrie privat oder staatlich ist und unabhängig davon, welche Muttersprache die Bosse sprechen. F: Was bedeutet das Wahlergebnis für die arbeitenden Menschen im Iran und für die Möglichkeiten der linken Opposition? Die Angriffe auf die Arbeiterklasse haben schon begonnen. Am 27. Februar hat der Madschlis ein Gesetz verabschiedet, dem zufolge Betriebe mit maximal fünf Arbeitern vom ohnehin sehr begrenzten Schutz des bisherigen Arbeitsgesetzes ausgenommen sind. Dagegen hat es bereits Demonstrationen gegeben. Andere Arbeiter haben Straßen blockiert, nachdem sie schon 20 Monate keine Löhne mehr bekommen haben. Westliche Firmen wie Fiat und VW sagen, daß das herrschende Arbeitsgesetz zu restriktiv und unflexibel sei. Die Arbeiter wissen also schon, was jetzt auf sie zukommt. Die bisherigen Angriffe auf den Lebensstandard und die Arbeitsbedingungen der Werktätigen werden unter der Herrschaft der »Reformer« noch schärfer werden. Auf dieser Basis werden die verschiedenen Schichten und Gruppen ihre Kämpfe koordinieren müssen. F: Sehen Sie nach dem Sieg der »Reformer« eine Änderung in der Haltung der verschiedenen imperialistischen Regierungen? Die meisten imperialistischen Länder - vor allem die Europas - drängen darauf, mit dem Iran Geschäfte zu machen. Nach dem Besuch des deutschen Außenministers Fischer in der Vorwoche steht der seines britischen Amtskollegen im Mai an. Die Regierung weiß, daß sie dringend ausländische Gelder braucht, um zu überleben. Die Beziehungen zu den reaktionären Regimen der Region wurden verstärkt. Damit soll ein Fall der Erdölpreise vermieden werden. 200 Millionen Dollar an Krediten sollen von internationalen Institutionen aufgenommen werden, um das Abwassersystem Teherans auf Vordermann zu bringen. Es braucht gewaltige Investitionen, um 20 Jahre Krieg, Korruption, Vernachlässigung und Inkompetenz wettzumachen. Aber die Wurzel dieser Probleme ist das System des abhängigen Kapitalismus selbst und die Tatsache, daß einem Land wie dem Iran keine andere als diese abbhängige Form des Kapitalismus offensteht. Interview: Anton Holberg
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