Neue Zürcher Zeitung, 16.03.2000
Menschenrechte als Herausforderung in der EU
Kandidaten mit Nachholbedarf bei den Minderheitenrechten
Die jährliche Debatte des EU-Kommissionsberichts über die
Menschenrechtssituation im Strassburger Parlament soll dazu beitragen,
die öffentliche Diskussion über ungelöste oder neu auftretende
Probleme wachzuhalten. Die Mängelliste wird zwar kaum kürzer,
dennoch wird der Sinn der Debatte durch Fortschritte unter Beweis gestellt.
In den EU-Kandidatenländern wurde ein Nachholbedarf beim Schutz
von Minderheitenrechten festgestellt.
uth. Strassburg, 15. März
In einer umfassenden Debatte über die Lage der Menschenrechte
in der EU und der Welt hat das Europäische Parlament am Mittwoch
besonders die Entwicklung im Bereich des Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit
und des Antisemitismus in den EU-Staaten und den beitrittswilligen Ländern
untersucht. Dabei stellte das Parlament fest, dass sämtliche Kandidatenländer
mit Ausnahme der Türkei die festgelegten Mindestbedingungen zur
Aufnahme erfüllen. Deshalb wurden auch Beitrittsverhandlungen aufgenommen.
Das dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
Achtung der Menschenrechte in den meisten dieser Länder noch eher
unterentwickelt ist.
Kritik an Frankreich und Belgien
Das Problem der Minderheiten sei der grösste Gefahrenherd für
die Zukunft Europas. Die Kandidatenländer müssten ihre Minderheiten
beim Gebrauch ihrer Muttersprache respektieren, erklärte der liberale
britische Berichterstatter Haarder. Doch es gebe auch zwei alte westliche
Mitgliedstaaten, die es noch immer nicht geschafft hätten, die
Europaratskonvention zum Schutz der Minderheiten zu unterzeichnen. Belgien
und Frankreich, die sich brennend für die Verhältnisse in
anderen Ländern interessierten, sollten erst einmal vor der eigenen
Haustür kehren.
Die Mängelliste in dem von der EU-Kommission vorgelegten Bericht
ist lang und lässt kaum ein Land in Mittel- und Osteuropa aus.
Estland werden Hindernisse beim Einbürgerungsverfahren sowie Trägheit
der Bürokratie vorgeworfen. Die geforderte Kenntnis der Landessprache
als Voraussetzung für den Erhalt der Staatsbürgerschaft wird
ebenso kritisiert wie die gesellschaftlichen Beschränkungen für
Angehörige der russischen Minderheit. Auch in Lettland wird das
Sprachengesetz kritisiert, vor allem die verbindliche Verwendung der
Staatssprache Lettisch im privaten Sektor, die für 43 Prozent der
dortigen Bevölkerung nicht die Muttersprache ist. Begrüsst
wird dagegen, dass in Litauen die Probleme mit der dortigen polnischen
Volksgruppe geregelt wurden.
Bedrängte Zigeuner
In Ungarn wiederum fehlt noch eine gesetzliche Regelung für die
parlamentarische Vertretung von Minderheiten, und die rund 500 000 Roma
in Ungarn haben noch immer unter Diskriminierung im täglichen Leben
zu leiden. Auch in Tschechien hat sich die Lage der Sinti und Roma kaum
verbessert, und in der Slowakei ist laut dem Bericht die grosse Roma-Minderheit
unverhältnismässig stark von Armut, Arbeitslosigkeit und Diskriminierung
betroffen. Auch in Slowenien, Rumänien und Bulgarien bleibt die
Lage der Roma weiterhin problematisch. Zu Polen wird angemerkt, dass
die landesweite Debatte über die ehemaligen Konzentrationslager
in die richtigen Kanäle münde. Die Regierung bereite Gesetze
mit dem Ziel vor, geschäftliche Aktivitäten und Bauwerke in
unmittelbarer Umgebung der Vernichtungslager zu verbieten.
Besonders schlechte Bewertungen erhält die Türkei, die in
Helsinki im letzten Dezember als offizieller EU-Bewerberstaat anerkannt
wurde. Zu den groben Menschenrechtsverletzungen gehören Folter,
einschliesslich der besonders unmenschlichen Tortur an Kindern, viele
Todesfälle in Haftanstalten, Hinrichtungen ohne Prozess, die Verweigerung
eines fairen und unabhängigen Gerichts, Verweigerung der freien
Religionsausübung und der Gewerkschaftsarbeit.
Wischen vor der eigenen Tür
Der Bericht des Sekretariats des EU-Ministerrats über die Menschenrechte
in der Europäischen Union ist dagegen mit 14 Seiten kurz ausgefallen.
Als grösste Herausforderung bei der Durchsetzung der Menschenrechte
werden aber auch hier die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
genannt. Konkret werden die Mitgliedstaaten darüber hinaus aufgefordert,
Strafmassnahmen abzuschaffen, die die Meinungsfreiheit, die Organisationsfreiheit
oder die Ausübung politischer Aktivitäten verbieten oder einschränken.
Griechenland wird erneut gemahnt, endlich das Recht auf Kriegsdienstverweigerung
aus Gewissensgründen anzuerkennen. Irland solle endlich die Uno-Konvention
gegen Folter unterzeichnen, heisst es. An Luxemburg, die Niederlande,
Griechenland, Portugal und Schweden wird die Aufforderung gerichtet,
die Europäische Rahmenkonvention für den Schutz von nationalen
Minderheiten zu ratifizieren. Belgien und Frankreich haben die Konvention
nicht einmal unterzeichnet. Zu den Ländern, welche die Europäische
Charta für regionale und Minderheitensprachen ratifizieren sollen,
gehört neben Frankreich und Belgien ebenfalls Luxemburg, das aber
seinen Willen dazu durch seine Unterschrift unter den Vertrag bereits
bekundet hat.
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