Le Monde diplomatique, 17.3.2000 Bewegung im Iran Von IGNACIO RAMONET EIN Hauch von Freiheit weht über dem Iran. Bei den Parlamentswahlen am 18. Februar 2000 eroberten vorläufigen Schätzungen zufolge die Reformkräfte um Präsident Mohammad Chatami 70 Prozent der Sitze. Nachdem sie bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 1997 und den Gemeinderatswahlen im März 1999 klare Siege verbucht hatten, hat sich erneut bestätigt, dass die Bevölkerung 21 Jahre nach der Islamischen Revolution eine nachhaltige Kursänderung verlangt. Die weltpolitische Tragweite dieser Entwicklung ist kaum zu überschätzen. Die gesamte muslimische Welt - ein riesiges Gebiet, das sich von Marokko bis Indonesien und vom Kosovo bis Nigeria erstreckt - blickt heute auf den Iran. Nach 1979 hatten sich die universalistischen, mit egalitären, antiimperialistischen, antizionistischen und antiamerikanischen Aussagen angereicherten Ideen des iranischen Islam über die gesamte muslimische Welt verbreitet. Vor allem in den benachteiligten Schichten der muslimischen Länder suchte Teheran ein Netz von Aktivisten und Propagandisten aufzubauen, um die Machtübernahme der Islamisten vorzubereiten. Ganz im Gegensatz zum konservativen Traditionalismus Saudi-Arabiens wollte sich der Iran als führende Kraft eines modernen, kämpferischen Islam profilieren. Dieses Projekt ist gescheitert. Das revolutionäre Regime befindet sich innenpolitisch im Zustand heilloser Verwirrung. Es ist zutiefst korrupt, innerlich zerrissen und ökonomisch am Ende. Die repressiven Exzesse und die reaktionäre Sittenstrenge des Regimes haben es beim Volk diskreditiert. Dabei hatte das Regime durchaus Erfolge vorzuweisen. Die Sozialpolitik kam den entrechteten Schichten zugute. Die Bildungspolitik hatte eindrucksvolle Ergebnisse: Als Resultat einer umfassenden Alphabetisierungskampagne und der allgemeinen Einführung des kostenlosen Schulunterrichts hat der Iran heute über 2 Millionen Studierende, von denen die überwiegende Anzahl Frauen sind. Und was den demokratischen Prozess betrifft, so verliefen die Wahlen im Mai 1997, im März 1999 und im Februar 2000 unter einwandfreien, transparenten Bedingungen. Paradoxerweise verlor das Regime gerade aufgrund dieser Erfolge immer mehr an Glaubwürdigkeit. Vor allem die politisierten jüngeren Generationen zeigen sich von der Islamischen Revolution enttäuscht. Erneut hat sich damit die Gesetzmäßigkeit bestätigt, die Alexis de Tocqueville am Beispiel der Französischen Revolution analysiert hatte: "(...) große Revolutionen, die gelingen, werden, indem sie die Ursachen, die sie herbeigeführt hatten, verschwinden lassen, eben durch ihren Erfolg unbegreiflich." Heute fordern Frauen, Jugendliche und Intellektuelle, das gesamte Reformlager, eine Revolution in der Revolution. Auf seine ganz eigene Weise erinnert Präsident Mohammad Chatami in dieser Situation an den Michail Gorbatschow, der dem Sowjetregime Transparenz (Glasnost) und eine Strukturreform (Perestroika) verordnen wollte. Der ehemalige Staatschef der Sowjetunion stellte die Errungenschaften der Oktoberrevolution von 1917 nicht in Frage. Und ebenso wenig distanzieren sich die Anhänger Chatamis von den Ereignissen von 1979, und sie träumen auch keineswegs von einer Restauration des vorrevolutionären Regimes. Ihr Nein zur Herrschaft der Mullahs ist vielmehr ein Nein zur Vereinnahmung der Revolution durch einen schiitischen Klerus, der sich außerstande zeigt, dem Land neue Impulse zu verleihen. KERN der Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Reformern ist der theokratische Charakter der islamischen Republik. Die Reformer bestreiten die göttliche Legitimität des Welajat-e Faqih, jener "Regierung des Obersten Rechtsgelehrten", die noch über dem gewählten Staatspräsidenten steht. Und ihrer Meinung sind nicht nur Laien, sondern auch zahlreiche hoch gestellte Geistliche, die befürchten, der Islam könnte unter der Unpopularität des Regimes leiden und für dessen Misserfolge verantwortlich gemacht werden. Schon leeren sich die Moscheen, schon werden die Geistlichen geschmäht. Nicht ohne persönliches Risiko warben die Reformkräfte im vergangenen Wahlkampf für die Abschaffung des Welajat-e Faqih, für rechtsstaatliche Verhältnisse, für ein Mehrparteiensystem, für Meinungsfreiheit, für das Recht der Intellektuellen und Künstler auf Kritik, für den Zugang von Frauen zu Führungspositionen in Verwaltung und Politik. Hunderte von neu gegründeten Zeitungen und Zeitschriften trugen die neuen Ideen in die Bevölkerung, ein lebendiges Zeichen für einen landesweiten intellektuellen und künstlerischen Gährungsprozess. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Reformer sind dagegen eher vage. Dabei ist die wirtschaftliche Lage des Landes durchaus alarmierend. 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung haben keine Arbeit, 50 Prozent aller Menschen leben unter der Armutsgrenze, die iranischen Auslandsschulden liegen bei über 22 Milliarden Dollar. Manche Reformer wollen einen starken Staatssektor beibehalten, insbesondere in der Mineralölwirtschaft; andere wollen sämtliche verstaatlichten Unternehmen wieder privatisieren und das Staatsmonopol bei Post und Telekommunikation, im Transportsektor wie in der Energiewirtschaft und in der Tabakindustrie abschaffen. Einig gegen die Konservativen, bleibt das Reformlager in wesentlichen Fragen gespalten. Noch ist also nichts entschieden. Die Konservativen unter ihrem obersten Führer Ali Chamenei kontrollieren nach wie vor das Gerichtswesen, die Massenmedien (Radio und Fernsehen), die wirtschaftlichen Entscheidungsinstanzen, die Polizei, die Streitkräfte und die paramilitärischen Milizen. Eine gewalttätige Konfrontation zwischen den beiden Lagern ist daher nicht auszuschließen. Präsident Chatami und seine Mitstreiter sollten sich eines bewusst machen: Der gefährlichste Augenblick für eine Regierung, die lange Zeit der Tradition verhaftet war, ist erfahrungsgemäß dann gekommen, wenn sie sich zu reformieren beginnt.
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