Frankfurter Rundschau, 24.3.2000 Moral, Interessen und Machtkalkül in der Außenpolitik Schlussfolgerungen ein Jahr nach dem Kosovo-Krieg / Von August Pradetto Vor einem Jahr begann die Nato ihr Bombardement in der Bundesrepublik Jugoslawien. Politisch wurde der Krieg als unausweichlich eingestuft. August Pradetto, Politikwissenschaftler an der Hochschule der Bundeswehr in Hamburg, gehört zu den wenigen Wissenschaftlern, die bereits 1998 beharrlich vor dieser militärischen Lösung gewarnt und deren Logik bestritten haben. In seinem folgenden Text, den wir gekürzt dokumentieren, schreibt er seine früheren Analysen fort: Ein Jahr danach .... Einleitung Die Begründungen, die für die Entscheidung der Nato, in Kosovo zu intervenieren, vorgetragen, und ein Teil der Schlussfolgerungen, die daraus gezogen worden sind, sind zuallererst humanitärer Natur. Sie vermitteln den Eindruck, als hätten normative Kriterien in der Außenpolitik der Regierungen der Nato-Staaten einen größeren Stellenwert erlangt. Die Entscheidung der Allianz vom 23. März 1999 habe auf dem Motiv beruht, eine humanitäre Katastrophe zu beenden. Die Nato-Aktion erziele eine abschreckende Wirkung auf Diktatoren. Damit sei der Anspruch auf Achtung der Menschenrechte weltweit einen Schritt vorangekommen. Indes wirft die völlig unterschiedliche Reaktion auf drei im Jahre 1999 fast simultan abgelaufene humanitäre Katastrophen in Jugoslawien, in der Türkei und im europäischen Teil Russlands Fragen auf. Die Analogie in den genannten Fällen besteht nicht nur im Leid der Bevölkerungen bzw. Volksgruppen in den jeweiligen Ländern, sondern auch im Sachverhalt, dass die Staatsführungen mit militärischer Gewalt gegenüber den jeweiligen Volksgruppen auf ihrem Territorium Menschenrechtsverletzungen begehen bzw. begangen haben. In allen drei Fällen kann vom Tatbestand der systematischen Diskriminierung, der ethnischen Vertreibung und - bei einer scharfen Auslegung der einschlägigen Bestimmungen (UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9. 12. 1948 - Antivölkermordkonvention, Art. II.) - von Völkermord gesprochen werden. Ein Vergleich zeigt darüber hinaus, dass die Menschenrechtsverletzungen in Kurdistan und in Tschetschenien schwerwiegender waren bzw. sind als in Kosovo vor der Intervention der Nato. Während in Kosovo gleichzeitig mit der militärischen Intervention offen der Sturz des Staatspräsidenten als politisches Ziel deklariert wurde, äußerte man gegenüber der russischen Führung wegen ihres Tschetschenien-Krieges jedenfalls bis zum Ultimatum von Grosny Anfang Dezember nur vorsichtig "Besorgnis" und Kritik und betonte, man könne diesen Konflikt nur "politisch" lösen. Auf dem Höhepunkt der militärischen Auseinandersetzungen im Februar 2000 - zusammenfallend mit der Ankündigung von Präsident Putin, die Ausgaben für die russischen Streitkräfte erheblich zu steigern - wurde Moskau ein Drittel der Schulden, die die Sowjetunion im Westen angehäuft hatte, erlassen und eine Streckung der Schuldenrückzahlung vereinbart. Die türkische Staatsmacht, die seit mehr als 15 Jahren einen Krieg gegen die Autonomiebestrebungen der Kurden im Osten und Südosten des Landes führt, in dessen Verlauf es mindestens 35 000 Tote und Millionen Flüchtlinge gegeben hat, wird nicht nur kaum von offiziellen Stellen kritisiert. Ankara ist Empfänger umfangreicher Waffenlieferungen und Mitglied der Nato, die sich als Wertegemeinschaft für Frieden, Sicherheit, Menschenrechte und Demokratie versteht. (. . .) Dass eine Differenz zwischen Moral und Interesse besteht, ist schon auf der Oberfläche politischer Legitimierung erkennbar: Während die militärische Intervention in Kosovo vor allem mit moralischen Ansprüchen begründet wurde, werden für die Politik gegenüber Moskau und Ankara in der Hauptsache "westliche Interessen" angeführt. Vor diesem Hintergrund stellen sich folgende Fragen: Ist die unterschiedliche Vorgehensweise in ähnlichen oder analogen Fällen legitim? Wenn offenbar nicht allein moralische Anliegen, sondern auch andere Kriterien die Grundlage für Entscheidungen über das Verhalten gegenüber Menschenrechtsverletzern darstellen: Welche Kriterienkonstellation führte zur Entscheidung, einen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zu führen? Und schließlich: Worin bestehen eigentlich die Fundamente und die Maßstäbe für außenpolitisches Verhalten bei Menschenrechtsverletzungen? Der Westen und die Gewalt-Eskalation in Kosovo Die maßgeblichen Kräfte, die das Vorgehen der Nato in der Kosovo-Krise bestimmten, waren die serbische Führung, die UCK, Deutschland und die USA. Drei dieser Akteure verfolgten eine Strategie, die auf militärisch gestützte Interessendurchsetzung fixiert war: Belgrad, die UCK und die USA. (. . .) Bis zum Oktober 1998 hielt die deutsche Regierung ein militärisches Eingreifen der Nato gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zumindest nur auf der Basis eines Mandats des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen für möglich. Die Gründe für die Veränderung dieser Position lagen nicht darin, dass eine Neubewertung menschenrechtlicher Aspekte im Völkerrecht und eine Neubestimmung des Verhältnisses von Menschenrecht und Völkerrecht vorgenommen worden wäre, oder darin, dass die Menschenrechtslage in Kosovo ein militärisches Eingreifen auch ohne Mandat des Sicherheitsrats als unabdingbar nahegelegt hätte. Sie lagen vielmehr vorrangig in der Furcht vor einem weiteren Ansturm von Flüchtlingen bei fortdauernder Gewalteskalation. Die Angst vor einer Eskalation des Konflikts über die jugoslawischen Grenzen hinaus spielte eine Rolle. Glaubwürdigkeitszwänge, die nach der vor allem von Washington und London forcierten Androhung mit militärischen Mitteln immer größer wurden, trugen ebenfalls dazu bei. Außerdem waren die Abhängigkeit von den USA beim "robusten" Krisenmanagement sowie Loyalitätsprobleme der neuen rot-grünen Bundesregierung im Oktober 1998, als ein Bekenntnis zur Politik der USA im Rahmen gemeinsamen Handelns innerhalb der Nato gefordert wurde, von Belang. Schließlich kamen indirekt Entscheidungen westlicher Politik, die zur Eskalation der Gewalt in Kosovo beitrugen, hinzu. Die westliche Politik war keineswegs nur Getriebener der Eskalation in Kosovo, dem schließlich nur die Möglichkeit der Kriegführung blieb. Vielmehr konstruierte die Politik maßgeblicher westlicher Akteure einen zusätzlichen politischen Kontext, der die eigenen Handlungsoptionen determinierte. Die Neubewertung der zuvor als terroristisch eingestuften UCK als "Befreiungsbewegung" im Juni 1998 durch Holbrooke und seine Vorgesetzten wirkte auf die Auseinandersetzungen in Kosovo wie ein Katalysator. Die Nichtanerkennung der albanischen Untergrundarmee hätte indes bedeutet, dem Fortgang des Konflikts zuzusehen und den Eindruck hilflosen Beiseitestehens zu verstärken. Genau dies sollte jedoch diesmal - im Gegensatz zu Bosnien-Herzegowina - nicht der Fall sein. Die Entscheidung zu einem frühzeitigen "robusten" Krisenmanagement, die dementsprechende Eigendarstellung und die dadurch verstärkte Erwartung in der Öffentlichkeit und in den Medien erhöhten den Handlungsdruck. Das Holbrooke/Milosevic-Abkommen über den Rückzug der serbischen Truppen aus Kosovo und die Stationierung von OSZE-Verifikatorenkontingenten im Oktober 1998 war zwar ein Schlag ins Wasser, aber zu diesem Zeitpunkt wäre ein anderes Abkommen nicht zu Stande gekommen. Die Franzosen, Italiener und Deutschen hatten ein nicht vom Sicherheitsrat der UN mandatiertes militärisches Vorgehen abgelehnt. Bei den Verhandlungen von Rambouillet bevorzugten die USA einseitig die Vertreter der Albaner. Aber bei einer anderen Verhandlungsstrategie hätte die albanische Seite nicht unterzeichnet, und der Konflikt wäre in der bisherigen Form weiter eskaliert. Natürlich hatten die Auseinandersetzungen in Kosovo keineswegs nur Milosevic zur Ursache, sondern auch das (im sozialistischen Jugoslawien schon seit 1968 erkennbare) Bestreben der Albaner nach Sezession von Serbien und den Terror militanter Albanergruppen. Dieser Sachverhalt war der westlichen Politik durchaus geläufig, wie direkt und indirekt in praktisch allen Erklärungen der Kontaktgruppe und in Stellungnahmen diverser Regierungen zum Ausdruck kam. Die USA (zusammen mit Großbritannien) frühzeitig und dann auch Deutschland und Frankreich stellten sich indes auf die Seite der Albaner und gegen die Serben. Die Albaner waren die Flüchtlinge. Serbien dagegen verfügte als größte Macht in der Region über das Potenzial, im von Slowenen, Kroaten, Bosniern, Albanern, Makedoniern und Serben geführten Kampf um die territoriale Neuordnung des zerbrochenen Jugoslawien seinen Ansprüchen auch militärisch größeren Nachdruck zu verleihen als andere. Serbien hatte das massivste Destruktionspotenzial und mutierte so zum größten Aggressor. Das Verhältnis zwischen den USA und Europa im Kosovo-Krisenmanagement war durchgehend prekär. Von einem Europa als Widerpart der USA kann allerdings ohnehin nicht gesprochen werden. London stand in den meisten Streitfragen an der Seite Washingtons und vertrat partiell und zeitweise eine härtere Linie. Davon abgesehen, waren die USA der Exponent einer Dynamisierung des "robusten" Vorgehens gegen Milosevic und spielten in allen Phasen eine dominierende Rolle. Andererseits resultierte die Kompetenzzuweisung für Washington und die Dominanz der USA nicht zuletzt aus der als immer unbefriedigender und problematischer empfundenen Schwäche europäischer Institutionen und Staaten. Deutschland und andere Staaten folgten letztlich der amerikanischen Strategie, weil man keine Alternative sah. Die Flüchtlingsströme wurden nicht kleiner, sondern größer. Den einmal eingeschlagenen Weg der Gewaltandrohung konnte man kaum mehr verlassen, ohne unglaubwürdig zu erscheinen, und dieser Weg zeitigte seine eigene Logik und Dynamik. In dieser Perspektive erscheint als zweitrangig, dass die Zustimmung zu den von den USA zur Unterstützung der Holbrooke-Mission in Belgrad angedrohten militärischen Schlägen am 12. Oktober 1999 kurz nach der Wahl und unmittelbar vor der Einsetzung einer neuen rot-grünen Regierung auch Loyalitätsmotiven gegenüber den USA folgte. Wie andere Nato-Staaten befürwortete die Bundesregierung die Militäraktion aber auch, weil sie sich der Konsequenzen eines solchen Vorgehens nicht bewusst war. Sie schätzte die Folgen falsch ein. Hätte man vorher von der Dauer des Einsatzes, dem Anhalten und Eskalieren des Terrors, der Massenvertreibung von Hunderttausenden, dem Ausmaß der Zerstörung Serbiens durch die elf Wochen dauernden Bombardements und dem sich erst danach abzeichnenden, langandauernden Militärengagement in der Region sowie den finanziellen Folgekosten gewusst, wäre die Kriegsentscheidung nicht getroffen worden. Frankreich, Deutschland, Italien, Griechenland und weitere Nato-Mitglieder hätten eine Zustimmung verweigert. Schon nach einer Woche Krieg lagen die Nerven der Beteiligten blank. Die Mitglieder der Allianz unternahmen die unterschiedlichsten, teilweise ebenso unabgestimmten wie kontroversen und von anderen Bündnispartnern abgelehnten Versuche, um mit Hilfe Dritter aus dem Krieg herauszukommen. Die Einheitlichkeit der militärischen Aktion konnte nur mit größter Mühe gewahrt werden, vor allem deswegen, weil Washington die gesamte operative Durchführung der Aktion steuerte, kontrollierte und dominierte. Damit ist die Frage, ob es denn eine Alternative zum militärischen Vorgehen der Nato gegeben hätte, bereits beantwortet. Sie ergibt sich aber nicht nur aus einer ex-post-, sondern auch aus der ex-ante-Betrachtung. Die Entscheidungsträger in den westlichen Hauptstädten haben selbst vor dem 24. März 1999 den Modus ihres Handelns vorgegeben, so wie die andersgeartete Vorgehensweise gegenüber der Türkei und Russland letztlich von der eigenen Entscheidungsfindung abhängig war und ist. In eine systematische Abfolge gebracht, lässt sich festhalten, dass folgende Faktoren die Kriegsentscheidung determinierten: Zuerst natürlich die Gewalteskalation in Kosovo und ihre Folgen. Dieser Faktor stellte indes nur die Voraussetzung, nicht die hinreichende Bedingung dar. Entscheidend war in der Folge vor allem die von den USA forcierte Strategie militärischer Gewaltandrohung und daraus folgende Glaubwürdigkeits- und Handlungszwänge. Eine Rolle spielte schließlich die Perzeption scheinbarer Alternativlosigkeit, der indes falsche Erwartungen hinsichtlich der Handlungsfolgen zu Grunde lagen. Postbipolarer Paradigmenwechsel Neben den genannten, eher prozessualen, d. h. dem Verlauf der Eskalation und der Entscheidungen durch die Akteure folgenden Faktoren haben weitere Elemente das westliche Vorgehen in Kosovo determiniert. Sie sind mehr dem strukturellen Hintergrund dieser Entwicklungen zuzurechnen. Seit 1989, seit den großen Umbrüchen und den massenhaft Asylsuchenden und Migranten aus Osteuropa, vor allem aber seit der Welle von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina, war man sich zunehmend der schwerwiegenden Herausforderung bewusst geworden, die auf die reichen und sicheren Staaten des Westens zukommt. Das Flüchtlingsproblem ging als immer dringlicheres Sicherheitsdilemma in die westlichen Risikoanalysen zur postkommunistischen Entwicklung ein. Nach Bosnien-Herzegowina sollte nicht nur nicht noch einmal ein Völkermord passieren, sondern es sollte auch verhindert werden, dass noch einmal und vielleicht immer wieder Flüchtlingswellen in den Westen strömen und die Stabilität der westlichen Gemeinschaften unterminieren. Gleichzeitig hatten sich in den neunziger Jahren die Bedingungen außenpolitischen Agierens fundamental verändert. Menschenrechte, Freiheit und Demokratie als Prinzipien westlicher Außenpolitik brauchten nun nicht mehr dem der atomaren Drohung folgenden Kalkül bipolarer Friedenswahrung unterworfen werden. Sie sollten und konnten nun auch operativ in der Außen- und Sicherheitspolitik der Nato-Staaten einen prominenten Platz erhalten. Gleichzeitig eröffnete der Wegfall der Sowjetunion und des Warschauer Pakts als Gegenmacht und Drohfaktor neue Möglichkeiten zur Durchsetzung für unabdingbar gehaltener Maßnahmen zur Sicherung von Stabilität auch ohne das Einverständnis und die Mitwirkung Moskaus. Unter diesen Konditionen verschränkten sich Interessen, Moral und Macht in spezifischer Weise. Die Entscheidung, gegen die BRJ Krieg zu führen, war in dieser Perspektive Resultat der Koinzidenz von "Sachzwängen" (Flüchtlingsströme eindämmen), außenpolitischer Normsetzung (Menschenrechte durchsetzen) und machtpolitisch-militärischer Hegemonie im gesamten europäischen Vorfeld der ehemaligen Sowjetunion. Das "Problem Kosovo" mutierte in dem Maße, in dem sich die USA engagierten und eine zunehmend härtere Linie verfolgten, zu einer die Interessen Dritter tangierenden Kontroverse über die Abgrenzung von Sphären politischen, sicherheitspolitischen, militärischen und sonstigen Einflusses beim Versuch, in Europa Ordnung zu schaffen. Für die westlichen Staaten ging und geht es angesichts der neuen Krisen im europäischen bzw. transatlantischen Raum um eine Neubestimmung des Wirkungskreises, in dem sie ihre Interessen zur Geltung bringen können - wenn erforderlich, auch ohne das Einverständnis Russlands. Für Russland ging und geht es um eine Einhegung der Reichweite der Nato und um die Verteidigung der eigenen Einwirkungsmöglichkeiten und Machtpositionen. In dieser neu entbrannten Auseinandersetzung um Einflusssphären im Sinne der Reichweite eigener Aktionsmöglichkeiten erscheint der zweite Tschetschenien-Krieg auch als die russische Antwort auf das Vorgehen der Nato in Kosovo. Der Krieg gegen die Kaukasusrepublik begann genau drei Monate nach Beendigung des Bombardements Jugoslawiens. Moskau wollte offenbar möglichst schnell und eindeutig klarstellen, dass das strategisch hochbedeutsame Gebiet zu Russland gehört, zumal sich die USA seit dem Zerfall der Sowjetunion immer intensiver in der erdöl- und erdgasreichen kaspischen Region engagieren. In Moskau schrillten die Alarmglocken, als US-Verteidigungsminister Cohen wenige Wochen nach dem Kosovo-Krieg ins Tschetschenien benachbarte Georgien reiste, um der dortigen Führung (zur Überraschung auch der westeuropäischen Nato-Partner) zu versichern, die Tür der Allianz stehe prinzipiell auch für Georgien offen. Die USA hatten schon vor der Kosovo-Krise betont, dass sie eine Beeinträchtigung ihres Agierens in der internationalen Arena, sei es durch Russland, sei es durch die UN, ablehnten. In der Kosovo-Auseinandersetzung der Jahre 1998/99 wurde dieser Standpunkt im machtpolitischen Vakuum zwischen dem postsowjetischen Russland und der neu positionierten Nato in Europa durchgesetzt. Gleichzeitig wurde er auf der Ebene der Doktrin festgeschrieben: In ihrem neuen strategischen Konzept vom April 1999 deklariert die Allianz, dass sie künftig, wenn sie dafür eine Notwendigkeit sieht, nicht allein zu Verteidigungszwecken (also auf Basis von Art. 5 des Nato-Vertrags), sondern auch zur "Abwehr von Gefahren für die Sicherheit" der Allianz, nicht nur bezogen auf das Territorium ihrer Mitglieder, sondern auch außerhalb ihres Vertragsgebietes, und in solchen Fällen nicht unbedingt auf Grund eines Mandats des (laut UN-Charta in solchen Fällen zuständigen) Sicherheitsrats der Vereinten Nationen agieren wolle. (...) Schlussfolgerungen Auf die Frage nach den Konsequenzen der Analyse für eine erfolgreiche Strategie bei Völkermord oder massiven Menschenrechtsverletzungen gibt es genauso wenig eine einfache Antwort wie auf die Frage nach einem akzeptablen und produktiven Verhältnis von Moral und Interesse in der Außenpolitik. Zumindest einige Schlussfolgerungen lassen sich aus den bisherigen Überlegungen ziehen. 1. In Kosovo hat sich die Politik der Androhung und schließlich der Anwendung massiver militärischer Gewalt als untaugliches Mittel zur Gewalteindämmung erwiesen. Wenn dieses Instrument überhaupt erfolgreich in Konflikten vom Typ eines Bürgerkriegs oder interner Unterdrückung von Volksgruppen eingesetzt werden kann, dann am ehesten unter der Voraussetzung - erstens völkerrechtlich legitimer Multilateralität (also eines Mandats des Sicherheitsrats der UN, hinter dem dann nicht nur "der Westen", sondern tatsächlich die Autorität der Weltgemeinschaft steht), - zweitens des von vornherein fixierten Einsatzes von Bodentruppen zur Hilfe für die bedrohte Bevölkerung sowie - drittens eindeutig auf humanitäre Anliegen begrenzter militärischer Ziele, z. B. die Schaffung von Schutzzonen. Keine dieser drei Bedingungen war im Falle des Eingreifens in der BRJ gegeben. 2. In diesem Kontext ist sowohl unter pragmatischen Handlungs- als auch unter ethischen Gesichtspunkten die Frage nach dem Verhältnis der internationalen Gemeinschaft (bzw. "des Westens") zu gewaltsam agierenden Befreiungs- oder Sezessionsbewegungen zu stellen. Das Vorgehen sezessionistischer Bewegungen mit militärischer Gewalt, und umso mehr das Bemühen militanter Gruppen, dritte Akteure zur Anwendung militärischer Mittel gegen den bekämpften Staat zu veranlassen, um der eigenen Gewaltstrategie zum Erfolg zu verhelfen, ist unter ethischen, politischen und völkerrechtlichen Gesichtspunkten abzulehnen. Die internationale Gemeinschaft ist verpflichtet, die berechtigten Anliegen von Volksgruppen, Ethnien, unter Umständen auch sich neu bildender Nationen zu unterstützen. Dies hat aber mit friedlichen Mitteln zu erfolgen. 3. Es ist völlig richtig, dass Prävention und Deeskalation nicht alle Fälle massiver Menschenrechtsverletzungen verhindern können. Eine Illusion wäre es zu glauben, bei einem nur ausreichend intensiven internationalen Krisenmanagement könnten alle gewaltsamen Konflikte eingedämmt werden. Die Entwicklung in Jugoslawien während der letzten zehn Jahre und besonders drastisch und desillusionierend die Erfahrung mit Massenvertreibungen aus Kosovo auch nach der Übernahme der Macht durch Nato und Kfor in Kosovo erweisen die Naivität einer solchen Annahme. Die Beendigung der Vertreibung der Albaner mit der "Kapitulation" Belgrads kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit den nach Kriegsbeginn intensivierten Morden und Vertreibungen sowie Vergewaltigungen unter der albanischen Bevölkerung einerseits, der Zerstörung Jugoslawiens durch das elfwöchige Bombardement andererseits noch eine ganz andere Dimension der Gewalt als jene eröffnet wurde, die zuvor Anlass zur Intervention gewesen war. Die Erfahrungen mit Kosovo zeigen auch, dass am Ende eines erfolglosen friedlichen Krisenmanagements nicht unbedingt die militärische Aktion mit unzureichenden Mitteln und Ergebnissen zu stehen hat - mit der Folge noch problematischerer Verhältnisse -, sondern dass die Beschränkung auf ebenfalls unzureichend erscheinende zivile Maßnahmen unter Umständen das kleinere Übel darstellt. In Bezug auf Tschetschenien wie in anderen Fällen wird exakt dieses Verhalten praktiziert. Dies ist nicht nur interessenbezogen, sondern auch unter moralischen Gesichtspunkten gerechtfertigt, weil es darauf gerichtet ist, noch größeres Unglück zu verhindern. (...) 4. Die Kritik am von der UN nicht legitimierten Vorgehen der Nato im Falle Kosovos enthebt nicht der Frage, was geschehen soll, wenn der Sicherheitsrat bei massiven Menschenrechtsverletzungen in einem Land gelähmt ist. Von einer allgemeinen Blockade oder Funktionsunfähigkeit der UN kann in den neunziger Jahren allerdings keine Rede sein. Dies zeigt das Handeln des Sicherheitsrats in einer Vielzahl von Fällen von Somalia im Jahre 1991 bis Ost-Timor, Sierra Leone und Kongo im Jahr 2000. Tatsache ist, dass - im Kontext interessenbezogener Politik - unterschiedliche politische Bewertungen dazu führen können, nicht in einen Konflikt einzugreifen. Solche Unterschiede gab es nicht nur in Bezug auf Kosovo, dies gilt seit Jahren auch für die Türkei. Die politische Blockade ist nicht nur ein Problem mit Russland oder China, sondern auch mit der Haltung westlicher Staaten. Das Argument, man dürfe sich in der Menschenrechtsproblematik nicht auf unabsehbare Zeit von der Konstellation im Sicherheitsrat abhängig machen, also davon, dass auf Grund einer bestimmten historischen Entwicklung fünf nukleare Mächte in einem Gremium sitzen, wo sie ihre eigenen Interessen oftmals wichtiger nehmen als die Menschenrechte, ist schnell einsichtig. Darzutun, was daraus folgen soll, ist ungleich komplizierter. Die Missachtung des Konsensprinzips (oder des Vetos maßgeblicher SR-Mitglieder) kann abgesehen von der völkerrechtlichen Problematik auch unter ethischen und humanitären Aspekten zu nicht vertretbaren Folgen führen. Dass Milosevic elf Wochen lang nicht eingelenkt hat, lag unter anderem daran, dass er auf die Unterstützung durch Moskau und Peking hoffte, nachdem diese sich vehement gegen eine militärische Intervention ausgesprochen und nach Beginn der Aktion heftigst protestiert hatten. D. h., auch wenn die Beschaffenheit und der Entscheidungsmodus des Sicherheitsrats und der UN in einer Zahl von Fällen unbefriedigend erscheinen, sind die Folgen nicht außer Acht zu lassen, die eintreten oder eintreten können, wenn der vorgesehene Mechanismus negiert wird. Diesem Problem muss sich jede Debatte über eine "Weiterentwicklung" des Völkerrechts oder der UN stellen, wie generell der Maßgabe, dass beabsichtigte politische und völkerrechtliche Veränderungen nicht ein Instrument aufs Spiel setzen dürfen, das fünfzig Jahre lang einen wesentlichen Beitrag zur Friedenssicherung und zur regionalen und internationalen Stabilität geleistet hat und weiterhin leisten soll. 5. Vielfach gibt es, wie schon gezeigt, Überschneidungen zwischen Moral und Interesse. Abgesehen davon, dass im konkreten Fall die militärische Intervention zu jener Vertreibung Hunderttausender führte, die dann von den überraschten Intervenienten bewältigt werden musste: Das Motiv, Flüchtlingswellen zu verhindern bzw. Flüchtlinge in der Region zu halten, mag nicht nur aus pragmatischen Gründen notwendig, sondern auch aus moralischen Motiven sinnvoll erscheinen. Der Gefahr der Entwurzelung von Menschen kann besser begegnet werden, indem sie möglichst nahe an ihrer Heimat mit einer größeren Chance zur baldigen Rückkehr angesiedelt werden. Das Argument, man dürfe nicht so viele Flüchtlinge aufnehmen, dass die Bundesrepublik destabilisiert wird, ist prinzipiell nicht nur aus pragmatischen Motiven richtig, sondern auch ethisch begründbar: Die Aufnahme von Flüchtlingen darf nicht zu kontraproduktiven Effekten führen, u. a. auch deswegen, damit in der Zukunft noch die Möglichkeit besteht, Flüchtlingen Zuflucht zu gewähren. Umgekehrt ist die Einhaltung von Menschenrechten nicht nur ein ethisches Anliegen, sondern auch eines der Interessenpolitik: Diktatoren und Rassisten sind die Produzenten von Flüchtlingswellen. (...) Entscheidend scheint, dass der Politiker erstens die mögliche Diskrepanz zwischen Moral und Interesse in der Außenpolitik anerkennt und zweitens sich und der Gesellschaft Rechenschaft darüber ablegt, wie er mit dieser Diskrepanz im konkreten Fall umgeht. Der deutsche Außenminister verlangt mit gutem Grund, die Mitglieder des Sicherheitsrates sollten in Zukunft ein Veto schriftlich begründen - was nichts anderes als den Versuch darstellt, Druck auf die Vetomächte auszuüben, ihre interessenbedingten Entscheidungen moralisch zu rechtfertigen. Ebenso sollte es dann für den deutschen Außenminister und die deutsche Regierung selbstverständlich sein zu begründen, inwiefern die deutsche Türkei-Politik und Waffenlieferungen an Ankara eine moralische Politik darstellen. Eine geteilte Moral mag denen, die sie vertreten, als Klugheit erscheinen. In Wirklichkeit wirkt sich Doppelmoral negativ auch auf unser elementares Interesse aus, dass sich andere dieser Doppelmoral weder uns noch Dritten gegenüber befleißigen. (...) 6. Völlig inakzeptabel ist die Rechtfertigung des Kosovo-Krieges mit der Gefahr, die Milosevic für eine regionale Destabilisierung durch mögliche Kriege in Makedonien und Montenegro dargestellt habe (Außenminister Fischer in seiner Rede vor der DGAP am 24. November 1999 in Berlin). Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Nato mit Absicht und zu Recht einen Präventivkrieg gegen Jugoslawien geführt habe. Nicht zuletzt solche Äußerungen - wie auch der zu Beginn des Krieges zur Rechtfertigung herangezogene Auschwitz- und Holocaust-Vergleich - zeigen den Nachholbedarf bezüglich einer Debatte über Außen- und internationale Politik im Kontext von Moral, Interesse und Völkerrecht. (...) |