Frankfurter Rundschau, 28.3.2000 Wer noch gehen kann, fliegt Polizeiärzte attestieren Gefolterten und Traumatisierten offenbar großzügig Reisefähigkeit - zwecks Abschiebung Von Ute Frings (Berlin) Eine Einladung nach Deutschland hatte Alexandru C. nicht. Der Mann ist kein Softwareentwickler, fraglich ist, ob Herr C. überhaupt Grundkenntnisse in der Bedienung eines Computers besitzt. Auch ist er schon 1990 nach Berlin gekommen, zu einer Zeit, in der die Ausländerbehörde selbst das Ansinnen eines indischen PC-Experten auf Aufenthaltsgenehmigung sofort abschlägig beschieden hätte. Alexandru C. lebt nicht freiwillig in Berlin. Wahrscheinlich hätte er nie seine Heimatstadt Temesvar in Rumänien verlassen, wäre dort nicht 1989 eine Revolution ausgebrochen, in deren Verlauf der damals 30-Jährige den Verteidigern der alten stalinistischen Ordnung in die Hände fiel. Als die Folterknechte des rumänischen Geheimdienstes Securitate ihn wieder laufen ließen, war seine rechte Körperhälfte vollständig gelähmt und die Sprachmotorik zerstört. Herr C. floh nach Deutschland, wo - wie er wusste - politisch Verfolgten Asyl gewährt wird. Medizinische und psychologische Betreuung fand Alexandru C. 1993 im Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer. Mühsam, als müsse er jedes einzelne Wort mit unzulänglichem Werkzeug aus einem rohen Stein meißeln, hat der große, kräftige Mann wieder gelernt zu sprechen. Voller Angst schaut er in die Welt, aus der er die Dämonen der rumänischen Kerker noch immer nicht vertrieben hat. Fachleute beschreiben seinen Zustand mit Begriffen wie "posttraumatische Belastungsstörung", "Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung" und "Depression". Die physischen Einschränkungen diagnostiziert der behandelnde Arzt, Ferdinand Haenel, als chronisch, eine einschneidende gesundheitliche Besserung sei nicht zu erwarten. Für den Psychiater besteht so gut wie kein Zweifel, dass bei einer Rückführung nach Rumänien mit dem Suizid des Patienten zu rechnen ist. Im Januar 1998 wurde Alexandru C.'s Antrag auf politisches Asyl abgelehnt, der Lagebericht des Auswärtigen Amtes verzeichnet für Rumänien keine politische Verfolgung mehr. Der Mann, dem ein Ausweis des Landesversorgungsamtes eine hundertprozentige Schwerbeschädigung attestiert, seine Frau und sein vierjähriger Sohn sollten schnellstmöglich in das Albtraumland zurückkehren. Im Morgengrauen des 18. Februar klingelten Polizisten die Familie aus dem Bett, kurz darauf saß sie in Abschiebehaft. Die Tickets für den Flug nach Rumänien lagen bereit. Abflug in wenigen Stunden. Vor den Augen eines Polizeiarztes musste Herr C. kurz auf und ab gehen. Alles bestens, attestierte der Mediziner. Der Mann sei reisefähig. In letzter Minute gelang es dem Rechtsanwalt der Familie, einen Eilantrag beim Amtsgericht zu stellen. Die Abschiebung wurde ausgesetzt. Eine Entscheidung des Antrages auf eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen stand damals noch aus. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Wie krank muss ein Flüchtling sein, um nicht aus Berlin deportiert zu werden? Darüber gehen die Meinungen der begutachtenden Ärzte oft und weit auseinander. Besonders wenn es sich um traumatisierte Menschen handelt, um Opfer von Kriegen, Folter und Vergewaltigung. Nicht selten warnt etwa der behandelnde Arzt, im Falle einer erzwungenen Rückkehr des Flüchtlings in sein Herkunftsland bestehe Gefahr für Leib und Leben, während der amtlich bestallte Kollege den Patienten guten Gewissens auf die Heimreise schicken zu können glaubt. Nicht selten begnügen sich die Polizeiärzte - ihnen obliegt es, Abschiebungen medizinisch zu verantworten - bei ihrer Diagnose mit nicht viel mehr als dem bloßen Augenschein. So hat es Alexandru C. erlebt, wie er glaubhaft versichert, so sucht es eine Studie des Zentrums für Folteropfer zu belegen. Aus gegebenem Anlass. Seit rund einem Jahr lässt das Landeseinwohneramt die privatärztlichen Atteste aller traumatisierten bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge durch den Polizeiärztlichen Dienst (PÄD) überprüfen. Denn: Traumatisierte können nicht abgeschoben werden, ihr Aufenthalt sei jedoch "sehr kostenintensiv", gibt der Sprecher der Innenverwaltung, Stefan Paris, zu bedenken, der die Vorwürfe gegen die Polizeiärzte als "überzogen" zurückweist. "Missbrauch" gelte es zu verhindern, heißt es in den Amtsstuben für innere Sicherheit, selbst um den Preis, durch eine "verfassungsrechtlich unzulässige Verfahrensweise" die "Grundrechte von traumatisierten Flüchtlingen" zu verletzen. So bezeichnete im Dezember das Verwaltungsgericht die Praxis, die indes weiter gepflegt wird: Von 800 in Berlin lebenden Kriegsflüchtlingen, die eine Traumatisierung geltend machen, haben die Polizeiärzte 300 begutachtet. Ihr Ergebnis: 240 Flüchtlinge, 80 Prozent, seien "reisefähig". Im Auftrag des Behandlungszentrums hat die Psychologin Angelika Birck Atteste miteinander verglichen, die niedergelassene Mediziner und Polizeiärzte für 26 Kriegsflüchtlinge ausgestellt haben. Ihr Fazit: Die Ärzte im Staatsdienst werden "ihrem diagnostischen Auftrag nicht gerecht". Stattdessen erfüllen sie "fachfremde politische Aufgaben". Im Klartext: Die Polizeiärzte agieren als verlängerter Arm der Innenverwaltung. Die Vorwürfe des Behandlungszentrums wiegen schwer. Nach Angaben der Studie erwähnt ein Drittel der polizeiärztlichen Atteste die traumatischen Erfahrungen der Flüchtlinge mit keinem Wort, für lediglich acht Patienten wurde eine klinische Diagnose gestellt. Gerade einmal zwei der polizeiärztlichen Gutachten genügten überhaupt internationalen Kritierien, so Angelika Birck. Und während die niedergelassenen Ärzte für alle 26 Patienten ausdrücklich einen Behandlungsbedarf festgestellt hatten, taten die Polizeiärzte dies nur in fünf Fällen. Keinerlei Angaben fand die Autorin der Studie in den Polizei-Attesten darüber, wie sich Arzt und Patient verständigten. Im Gegensatz zur Mehrzahl der Privatärzte, die entweder die Sprache der Patienten beherrschten oder einen professionellen Dolmetscher zuzogen, hatte das Landeseinwohneramt die Flüchtlinge lediglich aufgefordert, eine "sprachkundige Person" mitzubringen. Eine traumatisierte Frau kam in Begleitung ihrer Tochter. "Ungeheuerlich" fand Norbert Kunath, Richter der 35. Kammer des Verwaltungsgerichts, "die Vorstellung, die achtjährige Tochter müsste eine von der Mutter erlebte Vergewaltigung übersetzen". Kunath gab im Dezember dem Widerspruch einer bosnischen Familie gegen die Abschiebung statt. In diesem Fall hatte der Familienvater, ein 47-jähriger Mann, in nur einem Jahr fünf Selbstmordversuche verübt. Zwei Gutachten bescheinigten ihm auf Grund seiner traumatischen Erlebnisse dringenden Behandlungsbedarf. Die Aufforderung, sich beim Polizeiärztlichen Dienst auf seine Reisefähigkeit untersuchen zu lassen, hatte er nicht befolgt. Daraus, urteilte das Gericht, könne dem Mann aber kein Vorwurf gemacht werden. Der Verdacht der Innenverwaltung, Mediziner hätten "Gefälligkeitsgutachten" erstellt, rechtfertige keineswegs die generelle zwangsweise Untersuchung aller Traumatisierten. Stattdessen empfahl das Gericht den Verwaltern, Strafverfahren gegen die verdächtigten Ärzte einzuleiten. Nichts dergleichen geschah. Inzwischen hat die Kammer in über 60 Verfahren Drittgutachten bei gerichtlichen Sachverständigen in Auftrag gegeben, 24 liegen schon vor. Sie bestätigen laut Richter Kunath ausnahmslos die von den Privatärzten bescheinigte Traumatisierung; die Diagnosen der Polizeiärzte erwiesen sich als Makulatur oder, wie es die Kritiker des PÄD formulieren: "als Gefälligkeitsgutachten zur Unterstützung einer politischen Strategie". Wie krank muss ein Mensch sein, dass er in Deutschland auf Hilfe hoffen kann? Sehr, sehr krank, beinahe schon tot. Den Polizeiärzten gilt noch jeder als reisefähig, der ein paar Flugstunden überlebt. Bis Juli sind Alexandru C. und seine Familie in Deutschland geduldet. Was dann geschieht, ist ungewiss. Zur Zeit prüft die Innenverwaltung, ob die Abschiebung des staatenlosen Flüchtlings nach Rumänien überhaupt möglich ist. Ein entsprechendes bilaterales Abkommen existiert. Die C.s leben weiter in Angst und Schrecken. "Muss mein Mann zurück", sagt Frau C., "ist er ein toter Mann." |