RHEINPFALZ ONLINE, 24.3.2000

Ein Leben in ständiger Angst vor Entdeckung

In Deutschland sind schätzungsweise bis zu einer Million ausländische Menschen in die Illegalität abgetaucht

In Deutschland leben nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 500.000 und einer Million Ausländer illegal. Bestenfalls tauchen sie als festgenommene "Kriminelle" in Statistiken und in politischen Programmen auf: als "Problem der inneren Sicherheit". Über den Alltag dieser "heimlichen" Menschen, ihrer Furcht vor Polizeikontrollen und Denunziation, ist nur wenig bekannt.

Der Kurde Ahmet floh vor fünf Jahren aus der Türkei, nachdem er durch seine politische Arbeit im Gefängnis gelandet und gefoltert worden war. In Deutschland beantragte er Asyl. Doch auf Grund seiner Foltertraumatisierung bekam er bei der Befragung simple Fakten und Daten nicht mehr auf die Reihe, lieferte verschiedene Versionen seiner Geschichte ab. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Doch eine Rückkehr kam für den 38-Jährigen nicht infrage, er fürchtete um sein Leben. Ihm blieb nur das Abtauchen in die "Illegalität" - in die ständige Angst, entdeckt und doch noch ausgewiesen zu werden.

"Illegale" sind Menschen, über die Innenminister oder Polizeichefs am liebsten nicht sprechen. Bestenfalls tauchen sie als festgenommene "Kriminelle" in einschlägigen Statistiken auf oder in politischen Programmen als "Problem der inneren Sicherheit und Ordnung". Juristisch sind es Menschen ohne Aufenthaltsrecht - das heißt: Frauen, Männer und Kinder , die nach den Bestimmungen des Ausländerrechts zur Ausreise verpflichtet und von Abschiebung bedroht sind. Nach Paragraf 92 Absatz 1 des Ausländergesetzes macht sich strafbar, wer sich in Deutschland aufhält, ohne eine Aufenthaltsgenehmigung oder wenigstens eine Duldung zu besitzen. Dieser Umstand kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr geahndet werden. "Illegale" leben in ständiger Furcht vor Polizei und Denunziation. Doch sie nehmen dies auf sich, weil sie als politisch Verfolgte wie Ahmet in ihrem Heimatland um ihr Leben bangen müssten; oder weil die wirtschaftliche Situation in ihrer Heimat so katastrophal ist, dass sie keine Zukunft für sich und ihre Familien sehen. Der Jesuitenpater Jörg Alt, der in einer Studie die Situation illegaler Migranten in Leipzig untersuchte, geht davon aus, dass etwa eine Million Ausländer in Deutschland in der Illegalität leben. Es sind zum einen Asylbewerber, die abgelehnt wurden und untertauchten, zum anderen Arbeitsmigranten aus ost- und südosteuropäischen Ländern sowie Menschen, die mit Schlepperorganisationen über die Grenze kommen und gar nicht erst in ein Asylverfahren gehen. Für Alt, der in Frankenthal aufgewachsen ist und derzeit beim Flüchtlingsdienst der Jesuiten in München arbeitet, reagiert Deutschland fast ausschließlich repressiv auf die wachsende Illegalität. Migrationspolitik bestehe vorwiegend aus Ausweiskontrollen, Razzien auf Baustellen und in Restaurants, Grenzkontrollen, Ausweisungen, Abschiebungen. So hat der Bundesgrenzschutz 1999 an deutschen Grenzen 37.789 illegale Einreisen verhindert; 57.342 Menschen wurden an den Grenzen zurückgewiesen, 56.610 zurück- ins Nachbarland beziehungsweise abgeschoben. Legalisierungs-Aktion in Belgien All jene Migranten, denen es - aus politischen oder aus wirtschaftlichen Gründen - ums Überleben geht, wird die Gefahr, fest genommen und bestraft zu werden, nicht ernsthaft davon abhalten, nach Deutschland zu kommen. "Umso weniger, als es in Deutschland genug Nachfrage nach billigen Arbeitskräften gibt", sagt der Jesuitenpater. Das stellen auch die Arbeitsämter bei ihren Aktionen zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung und des Missbrauchs von Sozialleistungen fest: 1998 haben die rheinland-pfälzischen Arbeitsämter Bußgelder in der "Rekordsumme" von 8,1 Millionen Mark verhängt. Die mit Abstand höchsten Bußgelder wurden wegen illegaler Beschäftigung von Ausländern erlassen: knapp 4,1 Millionen Mark. Armin Schätter vom Landesarbeitsamt für Rheinland-Pfalz und das Saarland weiß, dass die illegale Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer in manchen Fällen mit großen Missständen verbunden ist: Sie erhalten häufig keinen leistungsgerechten Lohn, wohnen oft in menschenunwürdigen Unterkünften, werden regelrecht ausgebeutet.

"In Deutschland gibt es viele Wirtschaftsbranchen, die eiskalt mit diesen Leuten kalkulieren - in der Gastronomie, im Reinigungsgewerbe, auf dem Bau und in der Landwirtschaft", sagt Pater Alt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Arbeitgeber, der illegale Ausländer beschäftigt, bei einer Kontrolle entdeckt wird, ist gering. "Die können sich an fünf Fingern ausrechnen, dass, wenn sie eine Kolonne sieben Tage lang irgendwo einen Drecksjob machen lassen, die Wahrscheinlichkeit, vom Arbeitsamt erwischt zu werden, eins zu 1000 ist." Gibt es einen Ausweg aus der Misere? Ein Ansatz ist nach Ansicht Alts, den ausgebeuteten Arbeitern die Möglichkeit zu geben, vor einem Gericht ihren Lohn einzuklagen. "Doch hierzulande haben ,Illegale' keine Rechte und somit ist ihnen auch der Gang zu den Arbeitsgerichten verwehrt." Im Sande verlaufen ist auch die Anregung des innenpolitischen Sprechers der Grünen, Özdemir, über eine Amnestie oder eine Stichtagsregelung für illegal in Deutschland lebende Ausländer nachzudenken. Die Politik müsse sich dringend mit der häufig schlimmen Situation jener Ausländer auseinander setzen, die ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland lebten, forderte Özdemir. Belgien ist schon einen Schritt weiter. Dort stellten im Januar rund 40.000 Illegale einen Antrag auf Legalisierung. "Es gibt keine einfachen Lösungen" "Jeder weiß, dass es ,Illegale' gibt, aber keiner spricht gerne darüber", gibt die rheinland-pfälzische Ausländerbeauftragte Maria Weber zu. Sie plädiert dafür, die menschliche Dimension nicht aus den Augen zu verlieren. Sie schränkt aber ein, der Staat könne auch nicht sagen: "Ihr könnt alle hierbleiben." Weber weiß, dass "es in dieser Problematik keine einfachen Lösungen gibt". Sie sieht aber einen Ansatzpunkt darin, die Schleuserbanden sowie die Unternehmen, die illegale Ausländer "professionell" ausbeuten, härter zu bestrafen.

Jörg Alt glaubt nicht, dass - so lange es "Push- and Pull-Faktoren (Druck- und Zug-Faktoren)" auf der Welt gibt - das Problem der illegalen Zuwanderer in den Griff zu bekommen ist. Zu den Push-Faktoren zählt er Verfolgung, Bürgerkrieg, Umweltzerstörung, Armut; der Pull-Faktor sind die Arbeitsmöglichkeiten in den reichen Staaten. Für ihn besteht eine Lösung nur darin, den Menschen in ihrer Heimat Arbeit und einen gewissen Wohlstand zu schaffen: "Der glücklichste Migrant ist der, der zu Hause eine Zukunft geboten bekommt." Doch auch die Rechte der hier lebenden "heimlichen" Menschen müssten besser geschützt werden: Sie müssten die Möglichkeit haben, den Lohn für geleistete Arbeit einzuklagen, ihre Kinder zur Schule zu schicken, Gesundheitsvorsorge zu treffen, "ohne Angst zu haben nach einer Operation in der Abschiebehaft aufzuwachen" oder als Opfer von Verbrechen zur Polizei zu gehen. Alle diese Rechte liegen unterhalb eines Aufenthaltsstatus'. "Damit genehmige ich den Leuten ja noch nicht hierzubleiben, ich erlaube ihnen aber als Menschen zu leben."

Von unserer Redakteurin: Anne-Susann von Ehr