Die Welt, 31.3.2000 Ecevit schließt seinen Rücktritt nicht aus Herbe Niederlage für den türkischen Premier im Parlament - Rechtsradikale ignorieren Koalitionsdisziplin Von Evangelos Antonaros Athen/Istanbul - Der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit nutzt seine gerade begonnene Indien-Reise, um über die Zukunft seiner Drei-Parteien-Koalition nachzudenken, die zahlenmäßig robust erscheint, sich aber in einer Dauerkrise befindet. Präsident Süleyman Demirel hüllt sich in Schweigen und hat kurzfristig alle Termine im In- und Ausland abgesagt. Die Islamisten reiben sich die Hände, weil sie schon wieder zum Zünglein an der Waage geworden sind. Das türkische Militär ist wie immer in Sorge ob der politischen Turbulenzen - Polit-Alltag in der Türkei. Unsicherheit herrschte gestern in Ankara nach dem verheerenden Ausgang einer Abstimmung über eine von Ecevit mühsam ausgearbeitete Verfassungsänderung, die Demirel eine Wiederwahl ermöglichen würde, dessen Amtszeit im Mai endet. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit wurde klar verfehlt und das, obwohl im Vorfeld mehr als 400 Stimmen gesammelt worden waren. Nur 253 Abgeordnete stimmten letztlich für die Reform, obwohl die Regierungskoalition über 352 Mandate in der Nationalversammlung verfügt - eine Schlappe für Ecevit und eine Machtdemonstration seiner rechtsradikalen Koalitionspartner. 367 Stimmen wären für die Annahme des Ecevit-Antrags nötig gewesen. Ecevit hofft nun auf die zweite Lesung, knüpft gar sein politisches Schicksal an diese Frage: Er schließt einen Rücktritt nicht aus, sollte das Gesetz auch in der nächsten Woche durchfallen. Bei der Abstimmung ist deutlich geworden, dass zahlreiche Abgeordnete der mitregierenden rechtsradikalen MHP-Partei und der Mutterlandspartei unter Ex-Premier Mesut Yilmaz Ecevit ihre Zustimmung verweigert haben - aus unterschiedlichen Motiven: Die MHP war wegen persönlicher und ideologischer Differenzen von Anfang an gegen Demirels Wiederwahl. Die Abstimmung war eine gute Gelegenheit, ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren. Yilmaz hingegen hegt eigene Interessen: Er will selbst türkischer Präsident werden. Nun muss Ecevit abwägen, ob er die Hilfe der vom Parteiverbot bedrohten islamistischen Fazilet Partisi (Tugendpartei) suchen soll, um seine Pläne durchzusetzen. Ein Kompromiss wäre notwendig, der bisher am Widerstand der Militärs gescheitert war: Die Islamisten würden Ecevits Initiative - statt bisher einmal für sieben Jahre soll der Präsident künftig bis zu zwei Mal für jeweils fünf Jahre gewählt werden - nur unter einer Bedingung zustimmen: Sie verlangen in der Verfassung festgeschriebene Garantien, wonach das im Artikel 69 der Verfassung vorgesehene Verbot von Parteien erheblich erschwert werden soll. Davon will allerdings das mächtige Militär, das die Bekämpfung des "staatsfeindlichen Fundamentalismus" als eine seiner Hauptaufgaben betrachtet, nichts wissen. Ecevit, der die Möglichkeit einer Wiederwahl seines einstigen Rivalen Demirel als eine Garantie für politische und wirtschaftliche Stabilität in der Türkei betrachtet, steckt in einer Zwickmühle: Geht er auf die Forderungen der Islamisten ein, so riskiert er eine Konfrontation mit der Generalität und der Justiz, die die Tugendpartei verbieten will. Lehnt er die Forderungen der Islamisten ab, verliert er auch die nächste Abstimmung und kann seine Reformpläne begraben.
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