Neue Zürcher Zeitung, 31.03.2000
Niederlage für Ecevit im türkischen Parlament
Vorschlag zur Wiederwahl des Präsidenten vorerst gescheitert Eine
vom türkischen Regierungschef Ecevit vorgeschlagene Verfassungsänderung,
die eine Wiederwahl von Präsident Demirel ermöglichen würde,
ist nach langer Debatte im Parlament gescheitert. Trotz seiner Niederlage
will Ecevit die Vorlage erneut unterbreiten, da er im Falle eines Präsidentenwechsels
die derzeitige politische Stabilität für gefährdet hält.
it. Istanbul, 30. März
Nach einer 14 Stunden dauernden Debatte hat das türkische Parlament
in den frühen Morgenstunden des Donnerstags ein von der Regierung
ausgearbeitetes Paket zur Verfassungsänderung verworfen. In der
550 Mitglieder umfassenden Nationalversammlung sprachen sich lediglich
303 Abgeordnete für eine Änderung aus, während 202 dagegen
votierten. Für Verfassungsänderungen ist aber eine Zweidrittelmehrheit
nötig. Bei der Abstimmung ging es hauptsächlich um eine Änderung
des Verfassungsartikels 101. Damit wäre eine zweite Amtszeit für
Präsident Demirel möglich geworden. Gemäss den geltenden
Regelungen kann der Präsident nicht für eine zweite Amtsperiode
bestätigt werden.
Schwerer Schlag für den Regierungschef
Das Resultat der Abstimmung war für den Regierungschef Ecevit ein
schwerer Schlag. Der altgediente Politiker hatte in den letzten zwei
Monaten seine Bemühungen darauf konzentriert, Demirel eine zweite
Amtszeit zu ermöglichen; sie hätte allerdings im Unterschied
zur ersten, siebenjährigen Amtsperiode nur fünf Jahre gedauert.
Ecevit glaubte, auf diese Weise die politische Stabilität der letzten
Monate im Lande bewahren zu können. Die derzeitige Ruhe im Land
ist eine der Grundvoraussetzungen, um die mit dem Internationalen Währungsfonds
verabredeten wirtschaftlichen Reformen durchzuführen. Zum Erreichen
dieses Ziels liess sich der als nicht korrupt geltende Altsozialist
Ecevit auf einen politischen Kuhhandel mit den übrigen Parlamentsparteien
ein. Um die Gunst der Islamisten für sein Paket zu gewinnen, bot
er ihnen eine Änderung des Verfassungsartikels 69 an. Dieser befasst
sich mit dem Verbot politischer Parteien. Da der islamistischen Tugendpartei
eine Zwangsschliessung droht, wollte Ecevit deren Parlamentarier damit
ködern, dass er eine Verfassungsänderung anbot, die Parteienverbote
erschweren würde. Im Laufe der letzten zwei Monate gab der Regierungschef
ferner dem Druck anderer Abgeordneter nach und billigte auch eine Änderung
des Artikels 86, um Parlamentariern höhere Pensionen und Gehälter
zu gewähren. In Ankara war die Rede von einer grenzenlosen Bestechung.
Dass Ecevits Paket nun dennoch abgelehnt wurde, wird als grosse persönliche
Niederlage des Regierungschefs gewertet. Die Tatsache, dass viele der
Nein-Stimmen aus Kreisen der Regierungsparteien stammen, hat zu einer
Vertrauenskrise unter den Koalitionspartnern geführt und könnte
mittelfristig die Regierung destabilisieren. Er habe lange Zeit versucht,
die politische und wirtschaftliche Stabilität zu bewahren, sagte
Ecevit am Donnerstag gegenüber der Presse. Nun sei er in echter
Sorge um die Zukunft des Landes. Unmittelbar nach der Abstimmung hatte
er einen Rücktritt seiner Regierung nicht ausgeschlossen. Das Resultat
der Abstimmung war auch für den Präsidenten bitter. Seit einem
halben Jahrhundert bestimmt Demirel in wechselnden Rollen - als Oppositionspolitiker,
als Regierungschef und als Präsident - die Geschicke der Nation.
Er will es nicht wahrhaben, dass manche Bürger seiner überdrüssig
sind. «Wie kann ein 76jähriger Präsident die Verlängerung
seiner Amtszeit fordern in einem Land, in dem 65 Prozent der Bevölkerung
jünger als 30 Jahre sind?» fragte sich der Kolumnist Cengiz
Candar.
Stärkung der Islamisten
Ecevit hat am Donnerstag erklärt, er werde die Verfassungsänderungen
am nächsten Mittwoch dem Parlament erneut vorlegen. Damit signalisierte
er seine Bereitschaft, auf die Forderungen der Islamisten einzugehen.
Die Tugendpartei verlangt eine gesetzlich verankerte Garantie dafür,
dass ihre Partei nicht verboten wird. Die Islamisten wünschen ferner
für den Gründer ihrer Bewegung, Necmettin Erbakan, politische
Bewegungsfreiheit. Der Preis für Demirel werde immer höher
und drohe erträgliche Grenzen zu überschreiten, schrieb der
für seine guten Beziehungen zur Armee bekannte Kolumnist Güngör
Mengi. Auch die Armee scheint vom Abstimmungsresultat und dessen Folgen
alarmiert zu sein. Nervös reagierte auch die Istanbuler Börse.
Infolge der Angst vor einem Rückfall in unstabile politische Zeiten
hat der Aktienindex allein am Donnerstag vormittag rund 10 Prozent eingebüsst.
Grund zur Freude haben lediglich die Islamisten. Seine Partei sei offen
für jeden Dialog mit der Regierung, sagte der Vorsitzende der Tugendpartei,
Kutan, selbstsicher. Die Medien waren sich am Donnerstag darin einig,
dass die Islamisten die heimlichen Sieger der Parlamentsabstimmung sind.
Denn sie wurden wegen Ecevits Bemühungen, Demirel im Amt zu halten,
unerwartet zum Zünglein an der Waage.
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