Tagesspiegel, 3.4.2000 Missstände in der türkischen Justiz Minderjährige werden für kleine Sünden härter bestraft als Mafia-Bosse Susanne Güsten In den Schaufenstern türkischer Konditoreien lauert die Versuchung: Auf großen Blechen ausgebreitet, warten viele Kilo "Baklava" - die mit süßem Sirup getränkten und mit Pistazien oder Nüssen gefüllten Blätterteigstollen - auf Käufer. Vier Jungen aus der südtürkischen Stadt Gaziantep wurde diese National-Leckerei der Türken vor drei Jahren zum Verhängnis. Sie brachen die Tür zu einem Laden auf und nahmen sich einige Kilogramm Baklava und Nüsse. Doch die Polizei kam ihnen auf die Schliche und brachte sie vor Gericht, das sie wegen Diebstahls und Bildung einer kriminellen Vereinigung prompt zu neun Jahren Gefängnis verurteilte. Jetzt wurden drei der vier Verurteilten vorzeitig aus der Haft entlassen - und nun klagen sie den türkischen Staat an. Der Fall der Baklava-Diebe von Gaziantep sorgte landesweit für Aufsehen, weil er wie kaum ein anderer die Missstände in der türkischen Justiz verdeutlicht: Mafiabosse und Killer laufen frei herum, weil sie Verbindungen zu hochrangigen Persönlichkeiten im Staatsapparat haben, während arme Schlucker von der vollen Härte der Gesetze getroffen werden. Das Treiben des Bandenchefs Alaattin Cakici führt dies den Türken derzeit mit aller Deutlichkeit vor Augen. Cakici ließ sich in den vergangenen Jahren von Unternehmern dafür anheuern, bei lukrativen Ausschreibungen Konkurrenten unter Druck zu setzen. Auch Politiker in Ankara spielten in diesen schmutzigen Geschäften häufig eine Rolle, besonders wenn es um Privatisierungen von Staatsunternehmen ging. Jetzt sitzt Cakici zwar in einem Istanbuler Gefängnis, aber er ist trotzdem unangreifbar und führt sich auf wie ein Fürst. Kürzlich forderte er mitten in der Nacht von seiner Zelle aus, es solle Lahmacun - türkische Pizza - gebracht werden. Die Gefängnisleitung schickte dafür Wachpersonal los. Als die erste Lahmacun dem Herrn Mafiaboss nicht mundete, gingen die Justizbeamten eben ein zweites Mal los. Doch wem der Nimbus eines Unterweltkönigs fehlt, der kann auf solche Serviceleistungen der Behörden nicht zählen. Das gilt auch für Jugendliche aus den Armenvierteln, die sich beim Stehlen erwischen lassen. Das türkische Strafrecht sieht besonders für Eigentumsdelikte drakonische Strafen vor. Auch bei angeblichen staatsfeindlichen Umtrieben kennt die Justiz kein Pardon - wegen dieser Unerbittlichkeit gibt es in der Türkei immer wieder tragikomische Fälle, die aus der Feder eines Satirikers stammen könnten. So landete in Istanbul eine Gruppe Kinder vor Gericht, die in ihrem armen Stadtviertel mit einem selbst organisierten Protestzug gegen Lehrermangel an ihrer Schule protestiert hatten. Die Anklage wegen der "ungenehmigten Demonstration" hatte zwar keinen Erfolg, die jungen Angeklagten mussten aber ein spektakuläres Gerichtsverfahren über sich ergehen lassen. Um nicht durch Zeitungsfotos zu ungewollter Prominenz zu gelangen, zogen sie bei den Gerichtsterminen Masken über ihre Gesichter und sahen aus wie traurige Karneval-Clowns. Die Kinder-Demonstranten von Istanbul sind keineswegs ein Einzelfall. Erst vor wenigen Tagen wurden in der südtürkischen Stadt Adana drei kleine Jungen im Alter von drei, fünf und sieben Jahren von Soldaten der Gendarmerie verhaftet, weil sie in Nachbars Garten Setzlinge ausgerupft hatten - doch das ging selbst der Staatsanwaltschaft zu weit. Sie ließ die Kinder laufen. Andere Minderjährige, die mit der Polizei Bekanntschaft machen, haben weniger Glück. In der ganzen Türkei gibt es nur sechs Jugendstrafkammern. Alle Angeklagten über 15 Jahre können vor einem normalen Gericht erscheinen, wenn keine Jugendkammer zur Verfügung steht; wenn Politik im Spiel ist, können Heranwachsende sogar vor einem Staatssicherheitsgericht landen. In einigen Fällen wurden Minderjährige auch schon zum Tode verurteilt; allerdings wurde keines der Urteile vollstreckt. Doch es geht auch ohne Hinrichtungen häufig makaber genug zu. Das Urteil über die jugendlichen Baklava-Diebe von Gaziantep etwa wurde zum Entsetzen der Öffentlichkeit sogar vom Obersten Berufungsgericht der Türkei bestätigt. Der heute 19-jährige Baklava-Dieb Ali Avci, der mit zwei Kumpanen jetzt aus der Haft entlassen wurde, hatte zwar Glück im Unglück, weil die Justiz die Strafe des zur Tatzeit Minderjährigen auf sechs Jahre herabsetzte und schließlich noch einmal halbierte, während der vierte Dieb noch ein Jahr länger in Haft bleiben muss. Doch das heißt nicht, dass Ali seinen Frieden mit dem türkischen Staat gemacht hat. "Meine Aussage haben sie mit Folter aus mir herausgeprügelt", erzählt der junge Mann, der seit seinen Erlebnissen in der Haft unter Herzproblemen leidet. Warum die Polizei bei dem jugendlichen Dieb Gewalt anwandte, obwohl er doch längst überführt war, weiß Ali nicht. Die Tatsache, dass einer seiner Peiniger bei der Polizei kürzlich wegen Autodiebstahls selbst verhaftet wurde, ist nur ein schwacher Trost: "Ich bin jetzt vorbestraft - niemand gibt mir Arbeit." Deshalb solle sich jetzt der Staat darum kümmern, dass er einen Job bekomme, fordert er. "Mit Baklava habe ich mich versöhnt", sagt Ali, der sich gleich am ersten Abend nach seiner Entlassung auf dem Markt von Gaziantep mit der Süßspeise eindeckte, "aber mit dem Staat nicht." Auch sein Privatleben sei zerstört, klagt der 19-Jährige. Er habe zwar eine Freundin, aber an Heirat sei nach der Haftstrafe frühestens in zehn Jahren zu denken. Immerhin absolvierte Ali in der 30-monatigen Haft Ausbildungen im Kfz-Handwerk und als Teppichweber. Dennoch: Der junge Mann hat wegen des Stigmas der Haftstrafe Angst vor der Zukunft. Er will deshalb notfalls alle Instanzen bis hin zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg bemühen, um die Tilgung der Vorstrafe zu erreichen. Doch möglicherweise kommt von einer ganz unverhofften Seite Hilfe in der Not: Mahmut Güllü, der Inhaber der vor Jahren von Ali und seinen Freunden bestohlenen Konditorei, erwägt, dem jungen Mann eine Stelle anzubieten. "Unsere Tür steht dir immer offen", ließ der Ladenbesitzer dem Dieb ausrichten. Als erste Geste des guten Willens schickte Güllü dem Freigelassenen ein passendes Geschenk - eine Portion Baklava aus eigener Herstellung.
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