Südwest Presse, 3.4.2000 Beitrittskandidat Türkei DETLEV AHLERS Seitdem die Türkei Beitrittskandidat der Europäischen Union ist, so wird aus Ankara berichtet, fragen dort viele Besucher nach den Menschenrechten. Dies wird von den Türken inzwischen als lästig und als unzulässige Einmischung empfunden. Es wäre auch eine andere Reaktion denkbar, nämlich die Menschenrechte so zu gewähren, dass die Nachfragen gegenstandslos und diese Beitrittsvoraussetzung erfüllt würde. Doch von einer solchen Strategie ist nichts zu bemerken. Nun reist Bundespräsident Rau in dieser Woche in die Türkei, und er hat allen Grund, dort lästig zu fallen. Dem ¸¸Bruder Johannes'' wird bekannt sein, dass vom 1. bis 30. März Ercan Sengul und Necati Aydin bei Izmir im Gefängnis auf ihren Prozess warteten, der nun für Mai terminiert ist, weil und nur weil sie Bibeln verteilt haben und so den Islam beleidigt (weil ¸¸herabgesetzt'') haben sollen. Damit wird die Menschenrechtscharta des Europarats gebrochen (worin die Türkei den Europarekord hält), ganz zu schweigen von den Grundsätzen der EU-Wertegemeinschaft. Seit Dienstag muss der Menschenrechtler Akin Birdal die zweite Hälfte seiner einjährigen Haftstrafe verbüßen. Er ist nach einem politischen Mordversuch schwer krank und hatte deswegen einige Monate Haftverschonung. Aber er hat auf die Rechte der Kurden hingewiesen, und das wiegt in der heutigen Türkei schwerer. Apropos Kurden. Am Frühlingsanfang beginnt für sie (wie für die Perser und andere alte Sonnenkalendervölker) das neue Jahr, Newroz genannt. Aber wehe, man schreibt dieses Wort so. Das musste die Hadep-Partei erfahren. Sie hatte schriftlich eine Neujahrsfeier beantragt, was vom Istanbuler Vizegouverneur verboten wurde. Grund: Newroz ist ein kurdisches Wort, das auf türkisch Nevruz geschrieben wird, und man dürfe in Anträgen nur die türkische Sprache verwenden. Allein in Istanbul sind daraufhin 150 Menschen bei Newroz-Feiern verhaftet worden. Für Regierungschef Ecevit ist das alles ganz einfach: Die Türkei habe keine Minderheiten und brauche darum auch keine Minderheitenrechte. Diese drei Skandale - so würde jeder einzelne Fall genannt, wenn er in einem EU-Staat geschehen wäre - verbindet, dass sie sich kurz vor dem Staatsbesuch Johannes Raus ereignet haben. Aber man könnte für jeden beliebigen Monat eines beliebigen Jahres eine solche Liste zusammenstellen. Es liegt also kein bewusster Affront gegen Rau vor. Aber es gibt beim Gesetzgeber, bei Polizei und Gerichten nicht das geringste Gespür dafür, dass die Türkei einer Gemeinschaft beitreten will, in der zum Beispiel keine Moslems eingesperrt werden, weil sie den Koran verteilen. Und daran, den dauernd in der Türkei lebenden Deutschen auch nur annähernd die Aufenthaltsrechte einzuräumen, die Türken in Deutschland genießen, denkt auch niemand in Ankara. Stirbt zum Beispiel der türkische Ehemann, hat die deutsche Witwe kein Recht zu bleiben - gleichgültig, wie viele Jahrzehnte sie dort war und was sie aufgebaut hat. Eine solche Türkei hat nicht die geringste Chance, Mitglied der EU zu werden. Das Beitrittsangebot wird ein Desaster in den Beziehungen vor allem Deutschlands zur Türkei anrichten, wenn die Türken - sich in einen verletzten Stolz hineinsteigernd - zusammen mit ihren Landsleuten in Deutschland die Schuld für ihre Ablehnung nur bei den anderen, nämlich bei uns, finden werden.
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