Süddeutsche Zeitung 05.04.2000 Letzte Chance für den ungeliebten Patriarchen Obwohl die Türken ihres Präsidenten Demirel überdrüssig sind, soll ihm eine Verfassungsänderung noch eine Amtszeit ermöglichen Im politischen Alltag der Türkei ist es nichts Ungewohntes, brisante Themen erst in der letzten Minute zu behandeln. Selbst entscheidende Fragen wie die Besetzung der Staatsspitze und die Änderung der Verfassung sind keine Ausnahme. Eine weitere Grundregel türkischer Innenpolitik besagt zudem, dass nichts unmöglich und nichts jemals ganz verloren ist. So betrachtet hat Staatspräsident Süleyman Demirel vielleicht doch die Chance auf eine zweite Amtszeit, wenn die erste am 16. Mai abläuft. Regierungschef Bülent Ecevit ist entschlossen, die notwendigen Verfassungsänderungen erneut zur Abstimmung zu stellen - trotz der vernichtenden Niederlage, die ihm seine eigenen Koalitionspartner beim ersten Durchgang letzte Woche bereiteten. Leicht wird seine Aufgabe nicht werden. Denn außer Ecevit, Demirel selbst sowie den stillen Machthabern im Generalstab möchte kein Türke den mittlerweile 76 Jahre alten Patriarchen länger in einer politischen Funktion sehen. Seit vier Jahrzehnten bestimmt er die Geschicke des Landes - siebenmal war er Premier, dazwischen Oppositionsführer, und zuletzt sieben Jahre lang Staatsoberhaupt. Hinzu kommt, dass nur wenige Türken Demirels Tätigkeit als segensreich für das Land sehen. Mit seinem Namen verbinden sie viel eher den Ruin der Staatsfinanzen - ausgelöst durch teure populistische Maßnahmen wie beispielsweise eine Senkung des Rentenalters auf etwa 40 Jahre für Männer und Frauen. Als Glanzleistung seiner Amtszeit als Präsident wird ihm indes zugeschrieben, im Frühjahr 1997 die Machtübernahme durch das Militär verhindert zu haben. Ecevit versucht nun, Demirel als Garanten der Stabilität zu verkaufen - der Stabilität vor allem seiner eigenen Regierung. Doch deren Abgeordnete haben ihn bei der ersten Abstimmung in Massen verlassen: Nur 253 Volksvertreter stimmten für die Verfassungsänderungen, welche die Voraussetzung für eine zweite Amtszeit wären. Das war weit entfernt von der erforderlichen Zweidrittelmehrheit von 367 Stimmen und noch weiter von den 400 Abgeordneten, welche Ecevit schriftlich ihr Einverständnis versprochen hatten. Wie tief der Widerwillen gegen Demirel sitzt, zeigt sich allein daran, dass die Volksvertreter nicht einmal den süßesten Köder schlucken wollten, den der Regierungschef ausgelegt hatte: Zum ersten Mal hätte das Parlament selbst die Höhe der Abgeordneten-Pensionen bestimmen können. Bislang war ein entsprechender Vorstoß am Einspruch des Verfassungsgerichtes gescheitert. Wichtiger als Demirels Schicksal ist jedoch das von Ecevit. Der 75-Jährige regiert die Türkei seit zehn Monaten und hat dem Land damit ein ungewohntes Maß an Stabilität beschert. Sie war die Bedingung für einen Vier-Milliarden-Dollar-Kredit, mit dem ein lebenswichtiges Inflationsbekämpfungsprogramm gestützt werden soll. Noch geben sich alle Beteiligten sicher, dass ein Scheitern Demirels nicht unbedingt die Regierung in Nöte bringen würde. Voraussetzung ist, dass sich die Koalition rasch auf einen anderen Kandidaten für das höchste Staatsamt einigt. Die Frist dafür läuft am Sonntag kommender Woche ab. Doch Entscheidungen in letzter Minute sind in der Türkei ja eher die Regel. Wolfgang Koydl
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