Neue Zürcher Zeitung, 5. April 2000 Déjà-vu in den kurdischen Bergen? In den kurdischen Bergen hat sich ein trauriges Ritual eingespielt. Pünktlich mit der Schneeschmelze machen sich Jahr für Jahr türkische Soldaten auf, um südlich der Grenze im Nordirak die Lager der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) anzugreifen. Die Regierung in Bagdad erhebt jeweils der Form halber Protest gegen diese offensichtliche Verletzung der Souveränität ihres Landes. Saddams Klagen aber kümmern kaum jemanden. Die türkische Armee beansprucht im Nordirak ein Mitspracherecht. Die nach der irakischen Niederlage von den nordirakischen Kurden errichtete Autonomie war der Türkei immer ein Dorn im Auge. Kurdisches Nationalbewusstsein, egal, ob diesseits oder jenseits der Grenze, ist aus Sicht der traditionellen türkischen Kemalisten ein tödliches Virus, das es auszurotten gilt. Die spärlichen Meldungen über die diesjährige türkische Invasion erregen wenig Aufsehen. Handelt es sich um ein Déjà-vu-Ereignis unter Ausschluss der Öffentlichkeit? Nein - die Lage hat sich im Vergleich zu den Vorjahren grundlegend geändert. Die Ergreifung des PKK-Führers Abdullah Öcalan hat in der Türkei einen wundersamen Prozess ausgelöst, den niemand vorauszusagen gewagt hätte. Aus seiner Gefängniszelle heraus verfügte der gedemütigte PKK- Chef einen radikalen Wandel seiner Partei. Nicht mit Waffen, sondern mit Worten soll der Kampf für kurdische Minderheitenrechte in der Türkei geführt werden. Die PKK legte ihre Gewehre nieder und gab bekannt, sich fortan als politische Kraft betätigen zu wollen. Doch nur wenige Türken mochten dem als Kindermörder gebrandmarkten Öcalan trauen. Sie werteten die vermittelnden Worte des zum Tode verurteilten Kurden als ein taktisches Manöver, um die militärische Niederlage seiner Verbände zu kaschieren und seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Öcalans Anweisungen zeitigten aber unmittelbare Wirkung. Die Lage in Südostanatolien war im vergangenen Jahr so entspannt wie seit Jahren nicht mehr. In- und ausländische Wirtschaftsdelegationen reisten in die kurdische Metropole Diyarbakir und freuten sich da ob der verheissungsvollen Perspektiven. Nach 15 Jahren Bürgerkrieg sind weite Landstriche verödet und menschenleer; das Aufbaupotential in der fruchtbaren, wasserreichen Region ist vielversprechend, und Aufbruchstimmung machte sich breit. Davon angesteckt und von der vorsichtigen griechisch-türkischen Annäherung begünstigt, hielt die EU an ihrem Gipfel in Helsinki im Dezember die Zeit für reif, der Türkei endlich den Status einer Beitrittskandidatin zu gewähren. Doch die Europäer machten klar, dass eine weitere Annäherung von Ankaras Umgang mit den Menschenrechten abhängig ist. Die Nachricht war klar: Der Weg in die EU führt über eine politische Lösung der Kurdenfrage. Die PKK hat den Ball elegant aufgenommen und im Januar an einem im Nordirak abgehaltenen Parteikongress einen Forderungskatalog verabschiedet, der in Ton und Inhalt in nichts an die stalinistisch geprägte Rhetorik alter Tage erinnert. Die Partei verpflichtet sich darin, ihre Ziele mit demokratischen Mitteln erreichen zu wollen. Doch bis es soweit ist, hat die ehemalige Guerilla ein echtes Problem. Laut ihren Angaben sitzen derzeit über 7000 bewaffnete Kämpfer im Nordirak fest. Trotz eindringlichen Appellen der PKK-Führung hat sich bisher niemand ernsthaft darum gekümmert, wie diese Verbände entwaffnet werden könnten. Die Situation ist grotesk. Während in Nordirland die IRA ihre Entwaffnung verweigert und damit die Friedensbemühungen ernsthaft gefährdet, harren die in den kurdischen Bergen festsitzenden PKK-Kämpfer nur darauf, ihre Gewehre unter neutraler Vermittlung abgeben zu können. Und in Kosovo bereitet die unvollständige Entwaffnung der ehemaligen UCK-Guerilla Sorge. Weder die Uno noch andere internationale Organisationen wollen aber im chronisch instabilen Nordirak eine Vermittlungsmission riskieren. Gleichzeitig hat die türkische Regierung eine generelle Amnestie für die Kurdenkämpfer strikte abgelehnt. Offensichtlich halten die türkischen Generäle den Moment für gekommen, der geschwächten PKK den letzten und alles entscheidenden Schlag zu versetzen - ganz so, als wäre das Kurdenproblem mit militärischen Mitteln zu lösen. Welch ein Irrtum. Wok.
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