Neue Zürcher Zeitung, 5. April 2000 Vorstoss türkischer Truppen in den Nordirak Offene Fragen über die Absicht der Militäroperation In ihrem Kampf gegen die Guerilla der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) sind türkische Truppen bis zu zehn Kilometer tief in den Nordirak vorgestossen. Was die Regierung in Ankara mit dieser jüngsten Offensive im Schilde führt, bleibt vorerst unklar. it. Istanbul, 4. April Türkische Militärflugzeuge haben nach Presseangaben auch am Dienstag Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei im nordirakischen Grenzgebiet bombardiert. Gleichzeitig sind türkische Truppen bis zu zehn Kilometer tief in irakisches Territorium vorgestossen. Der Grenzübergang Habur ist seit dem Wochenende für Zivilisten geschlossen und darf nur von türkischen Militärfahrzeugen benutzt werden. Über Gefechte zwischen türkischen Soldaten und PKK-Kämpfern ist bisher nichts bekanntgeworden. Die grenzüberschreitende Offensive der türkischen Armee wurde am Wochenende lanciert. Rund 1000 in den Provinzen Hakkari und Sirnak stationierte Soldaten rückten in den Nordirak vor. Seither sollen laut der prokurdischen Zeitung «Özgür Bakis» über 10 000 türkische Soldaten bis in die Umgebung der nordirakischen Städte Dohuk, Zakho und Bekowa vorgedrungen sein. Erstaunlicherweise haben die beiden einflussreichen nordirakischen Kurdenführer Barzani und Talabani, die seit dem letzten Golfkrieg das gebirgige Grenzgebiet zur Türkei kontrollieren, bisher mit keinem Wort auf die türkische Invasion reagiert. Umstrittene Zielsetzung Auch in der türkischen Öffentlichkeit herrscht Schweigen über die Offensive. Im Gegensatz zu den Operationen der letzten Jahre, als prominente Journalisten mit den Truppen vorrückten und ausführlich über die Bewegungen der Armee berichteten, wurde das Ereignis diesmal von den auflagestarken Zeitungen kaum beachtet. Hinter vorgehaltener Hand fragt man sich besorgt, was die türkische Armeeführung mit dieser Offensive wohl bezweckt und welche politischen Folgen die Operation haben könnte. Kreise der türkischen Armee begründen die Operation damit, dass die PKK ihre Lager in der Nähe der Grenze wieder aufbauen wolle, was verhindert werden müsse. Die türkischen Kurdenkämpfer hatten nach den militärischen Schlägen der letzten Jahre ihre Stützpunkte aus dem Grenzgebiet in den Süden oder gar in andere Länder verlegen müssen. Ins Grenzgebiet zurück kehrten sie erst, nachdem der PKK-Vorsitzende Öcalan sie aus seiner Gefängniszelle heraus aufgefordert hatte, den von ihm einseitig ausgerufenen Waffenstillstand zu respektieren und sich aus der Türkei zurückzuziehen. Die türkische Armeeführung wähnt sich im Krieg gegen die PKK als unangefochtene Siegerin und fordert die bedingungslose Kapitulation der Guerilla. Die PKK aber bezeichnet die türkische Offensive als eine Provokation. Gefechte mit türkischen Streitkräften könnten den fragilen Frieden im türkischen Südosten gefährden und den Krieg auf den ganzen Nordirak ausdehnen, mahnte schon am 26. März der PKK-Kommandant Mustafa Karasu. Die PKK befindet sich seit der Festnahme Öcalans in einem Dilemma. Sie will einerseits nicht mit gewalttätigen Aktionen das Leben des Kurdenführers in Gefahr bringen, gleichzeitig kann sie aber auch nicht ihre Guerillas zur bedingungslosen Kapitulation zwingen. Eine Befreiungsbewegung opfere ihre Kämpfer nicht wie Lämmer, sagte vor kurzem der PKK-Feldkommandant Cemil Bayik. Gleich wie Karasu bestätigte Bayik, dass seine Leute sich nicht kampflos ergäben. Eine friedliche Entwaffnung der Guerilla könne nur mit einer Generalamnestie erreicht werden. Kurdische Politiker fragen sich aber, ob der Waffenstillstand überhaupt noch Geltung hat. Offensive des dunklen Staats Türkische Demokraten sprechen bereits von einer Offensive des sogenannten dunklen Staats. Sie meinen damit jene konservativen Kreise innerhalb der Armee und der Verwaltung, welche die kemalistische Staatsräson ungeachtet aller politischen Kosten beibehalten wollen und jegliche Reform im Rahmen des Prozesses der Annäherung an die Europäische Union strikte ablehnen. Diesbezügliche Signale aus Ankara, die in Brüssel negativ bewertet werden, haben sich dabei in letzter Zeit auffallend gehäuft. So wurde vor wenigen Tagen der führende Menschenrechtler Akin Birdal wieder hinter Gitter gesteckt. Und der Regierungschef Ecevit bezeichnete unlängst öffentlich Kurdisch als einen Dialekt des Türkischen, obwohl die beiden Sprachen grundverschiedene Wurzeln haben. Angesichts dieser Verschärfung des Klimas wird die türkische Operation im Nordirak in manchen europäischen Hauptstädten kaum Begeisterung auslösen. |