Stuttgarter Nachrichten 04.04.2000 Rau trifft in Athen und Ankara auf Partner mit anderen Sorgen Griechen stehen vor Wahlen, und der Türkei droht eine Regierungskrise - Präsident genießt Achtung Ankara - Eine einfache Reise wird es nicht. Bundespräsident Johannes Rau ist am Montag zum Auftakt einer sechs Tage langen Reise nach Griechenland und in die Türkei in Athen eingetroffen. In beiden Ländern stehen ihm heikle Momente bevor. Von unserer Korrespondentin SUSANNE GÜSTEN, Istanbul Dafür sorgen sowohl die schmerzliche Erinnerung an die deutsche NS-Vergangenheit als auch die aktuellen politischen Ereignisse in den zwei Gastgeberländern. Gleich zu Beginn wartet eine äußerst schwierige Aufgabe auf den Bundespräsidenten. In Griechenland, wo Rau von Präsident Konstantinos Stefanopoulos empfangen wurde, will Rau am heutigen Dienstag die Gedenkstätte in dem Dorf Kalavrita besuchen, in dem deutsche Soldaten als Vergeltung nach Aktionen griechischer Partisanen 1943 mehr als tausend Menschen töteten. Bei seiner Begegnung mit der Staatsführung wird Rau möglicherweise feststellen, dass ihm nicht die volle Aufmerksamkeit seiner Gesprächspartner zuteil wird. Denn nur vier Tage nach dem Staatsbesuch wird in Griechenland ein neues Parlament gewählt. Auch in der türkischen Hauptstadt Ankara dürften viele mit den Gedanken woanders sein, wenn Rau am Mittwoch dort eintrifft. Während sein Flugzeug landet, läuft im Parlament die entscheidende Abstimmung über die politische Zukunft des türkischen Präsidenten Süleyman Demirel und der Regierung von Ministerpräsident Bülent Ecevit. Dabei geht es um eine von Ecevit gewünschte Verlängerung der Amtszeit Demirels. Bei der ersten Lesung des Vorschlags hatte Ecevit im Parlament eine Schlappe erlebt. Verliert der Premier auch die erneute Abstimmung, dürfte er sofort zurücktreten. Es könnte also sein, dass es am Donnerstagvormittag, wenn Rau in Ankara mit seinen Gesprächen beginnt, nur noch einen amtierenden Ministerpräsidenten und einen Staatspräsidenten auf Abruf gibt. Auch ohne Regierungskrise wäre der Besuch Raus in Ankara keine Routine. Der Politiker ist erst der dritte Bundespräsident nach Theodor Heuss (1957) und Richard von Weizsäcker (1986), der die Türkei besucht. Seit Weizsäckers Besuch haben die Beziehungen zwischen den Ländern eine Berg- und-Tal-Fahrt hinter sich. Die Türken stellen nicht nur die mit mehr als zwei Millionen Menschen größte Minderheit in der Bundesrepublik, sondern betrachten Deutschland auch als besonderen Verbündeten. Umso größer war die Enttäuschung, als die noch von Helmut Kohl geführte Bundesregierung 1997 nach türkischer Ansicht die weitere Annäherung Ankaras an die EU blockierte. Seit dem Regierungswechsel in Deutschland haben sich die Beziehungen zwar wieder verbessert. Als Zeichen der Verbundenheit will Rau während seines Besuches einige hundert mit deutscher Hilfe gebaute Notunterkünfte an Erdbebenopfer übergeben. Doch Spannungen zwischen Berlin und Ankara bleiben. Derzeit sorgt der Streit um Leopard-Panzer für die Türkei für Zündstoff. Bundeskanzler Schröder sagte deshalb einen für März geplanten Besuch in der Türkei ab. Rau selbst hatte in der Türkei Sympathien erworben, weil er sich bei seiner Antrittsrede als Präsident aller in Deutschland lebender Menschen bezeichnete. Das haben die Türken nicht vergessen. at nachgesagt. Andererseits versuchte er, der Opposition die Verfassungsänderung, für die eine Zweidrittel-Mehrheit von 367 Stimmen nötig ist, schmackhaft zu machen. Der islamistischen "Tugendpartei" (FP) etwa, gegen die der Staatsanwalt ermittelt, stellte er ein liberaleres Parteiengesetz in Aussicht, um sie vor dem Aus zu "retten". Doch der FP waren die Zugeständnisse zu wenig weit reichend. Laut einer Umfrage der Zeitung Radikal in den Städten Istanbul, Ankara und Izmir sprachen sich jedenfalls 70 Prozent der Befragten gegen eine zweite Amtsperiode Demirels aus. An der jetzigen Regierungskoalition will die Mehrheit aber festhalten (62 Prozent). So wurde allgemein vermutet, dass das Kabinett von Ecevit auch nach einer etwaigen Schlappe im Abgeordnetenhaus weiter bestehen wird. Ein zusätzlicher Grund: Angesichts der jüngsten Wirtschaftsdaten (6,4 Prozent Rezession im Vorjahr, 60 Prozent Inflation) gäbe es bei einem Urnengang derzeit wenig zu gewinnen. Als mögliche Demirel-Nachfolger (der Präsident wird durch das Parlament gewählt) wurden Außenminister C¸em und Justizminister Türk genannt. Autor: Norbert Mayer, Walter Friedl |