Tagesspiegel, 7.4.2000 Ende der Ära Demirel Staatsvisite von Bundespräsident Rau in Ankara von der Niederlage seines Amtskollegen im Parlament überschattet Thomas Seibert Süleyman Demirel war an diesem sonnig-warmen Aprilvormittag nicht er selbst. Der türkische Staatspräsident, der sonst mit seinem zum Wahrzeichen gewordenen Hut in der Hand jeden und alle mit breitem Lächeln grüßt, stand mit verschlossener Miene neben seiner Frau vor dem Präsidentenpalast von Ankara, wandte sich von den Pulks der Journalisten und offiziellen Delegationen ab und wartete auf den deutschen Bundespräsidenten. Die offizielle Begrüßung von Johannes Rau zum Staatsbesuch in Ankara war zwar herzlich, doch schon beim Abschreiten der Ehrenformation der türkischen Armee verfiel der 75-Jährige türkische Staatschef wieder ins Grübeln. Ernst blickte er auf den Boden, während Rau den aufgereihten Soldaten ins Gesicht schaute. Erst bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Rau mehrere Stunden später hatte sich Demirel wieder gefangen. Er dozierte über die demokratischen Regelen, denen er sich zu fügen habe und ließ sich lediglich zu milder Kritik am Parlament hinreißen, das fast gleichzeitig mit dem Eintreffen Raus am Mittwochabend die Ära Demirel im Präsidentenamt beendet hatte: Die Volksvertreter weigerten sich, Demirel eine neue Amtszeit zu gewähren. Nun ist der 75-jährige ein Präsident auf Abruf - eine "lahme Ente". Wenn er den Gast aus Deutschland verabschiedet hat, muss Demirel deshalb seine Koffer packen: Bis zum 16. Mai muss er das Präsidentenpalais im Regierungsviertel Cankaya verlassen haben. Dann endet seine Amtsperiode. Vergeblich hatte Ministerpräsident Bülent Ecevit alles daran gesetzt, Demirel per Verfassungsänderung weitere fünf Jahre in Cankaya zu gewähren: Im Parlament senkten selbst in den Reihen der Koalition Dutzende Abgeordnete den Daumen und bescherten sowohl dem Präsidenten als auch der Regierung eine vernichtende Abstimmungsniederlage. Als Ecevit den Präsidenten telefonisch vom endgültigen Aus seiner Präsidentschaft informierte, sagte Demirel kurzfristig sein Vorhaben ab, Rau am Flughafen von Ankara zu empfangen. Und nicht nur bei Demirel traf Rau auf lange Gesichter. Denn nach dem Fiasko im Parlament rutscht die Türkei jetzt wieder in eine jener politischen Krisen hinein, die unter der Regierung Ecevit überwunden schienen. Jetzt, wo Demirel aus dem Weg ist, geht nämlich das Hauen und Stechen um seine Nachfolge los, das Ecevit eigentlich vermeiden wollte. Ein Jahr lang hielt seine Koalition zwischen Linksnationalisten, Rechtsextremen und Konservativen selbst solchen Anfechtungen wie der Entscheidung zum Aufschub der Hinrichtung von PKK-Chef Abdullah Öcalan stand; ob sie aber auch den in Ankara üblichen Parteienstreit um das höchste Amt im Staate überleben kann, ist fraglich - zumal Ecevit jetzt auch selbst angezählt ist: Sein Image als starke Klammer einer stabilen Koalition liegt nach der Rebellion der Abgeordneten in Scherben. Die Börse reagierte empfindlich auf den politischen Schock. Denn wenn im Parlament schon keine Mehrheit für Demirel als gemeinsamen Kandidaten der Koalition zu Stande zu bringen war, dann sind die Aussichten für die neuen Bewerber der einzelnen Parteien erst recht düster. Die türkische Wirtschaft steckt in der schwersten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg, die Inflation liegt noch immer über 60 Prozent und die für den EU-Beitritt notwendigen Reformen treten auf der Stelle. Doch in Ankara wird jetzt wochenlang nichts mehr gehen, während um das Präsidentenamt geschachert wird. Bis zum 25. April können die Parteien jetzt ihre Kandidaten nominieren, bis Mitte Mai dauert die Wahlperiode. Können bis dahin nicht die notwendigen Mehrheiten auf einen Kandidaten vereint werden, müssen Neuwahlen angesetzt werden. Raus Botschaften an die Türkei gingen in dieser aufgewühlten Stimmung in Ankara fast unter. Dabei hatte der Bundespräsident Wichtiges zu sagen. Er machte unmissverständlich klar, dass sich die Türkei erheblich ändern muss, wenn sie ihrem Ziel der EU-Mitgliedschaft in absehbarer Zeit näher kommen will. Rau mahnte mehr Toleranz den Kurden und sogar den religiösen Kräften in der Türkei gegenüber an. "Respekt vor religiösen Überzeugungen ist kein Widerspruch zu dem Prinzip eines säkulären Staates", sagte er bei einer Rede vor Studenten einer Universität in Ankara. "Sprachliche, kulturelle und ethnische Vielfalt und ihre Anerkennung bedeutet nicht Teilung oder Verfall der staatlichen Einheit." |