Neue Zürcher Zeitung, 07.04.2000
Rebellion der türkischen Abgeordneten
Vorlage zur Wiederwahl des Präsidenten definitiv verworfen
Zahlreiche türkische Parlamentarier haben das Diktat ihrer Parteivorsitzenden
ignoriert und die vom Regierungschef Ecevit gewünschte zweite Amtszeit
für Präsident Demirel verworfen. Die Presse sprach von einer
einmaligen Meuterei in der Nationalen Versammlung und lobte die Abgeordneten
für ihren Mut, der als Sieg der Demokratie gewertet wird.
it. Istanbul, 6. April
Das türkische Parlament hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten
selten zuvor soviel Lob erhalten, wie nach der Abstimmung vom Mittwoch.
Unter dem Titel «Ein grosses Bravo für unsere Nationalversammlung»
berichtet am Donnerstag die liberale Tageszeitung «Radikal»,
dass diesmal anstelle des Kaisers die Institutionen des Landes gewonnen
hätten. Das türkische Parlament hat am Mittwoch, wie bereits
kurz gemeldet, eine Verfassungsänderung, die Präsident Demirel
eine zweite Amtszeit ermöglichen würde, verworfen. Die vielen
Nein-Stimmen sind ein empfindlicher Schlag gegen Demirel, der zuletzt
selbst glaubte, in diesem Amt unersetzlich zu sein, und deshalb immer
öfters Kaiser genannt wurde. Zugleich bedeutet das Abstimmungsergebnis
auch eine schwere Niederlage für den Regierungschef Ecevit. Dennoch
feierte auch die konservative Tageszeitung «Hürriyet»
das Resultat als einen Sieg der Demokratie. Der bekannte Kolumnist Mehmet
Ali Birand sprach von einer Rebellion gegen die Kaserne-Demokratie,
und die auflagestarke «Sabah» kam zur Schlussfolgerung,
die Abgeordneten hätten die Ehre des Parlaments gerettet.
Lobenswerte Meuterei?
Das Lob der Presse gilt einer in der jüngeren türkischen Geschichte
tatsächlich nie vorgekommenen Meuterei namenloser Abgeordneter
gegen ihre allmächtigen Parteiführer. Der Aufstand brach ausgerechnet
bei dieser für Ecevit besonders wichtigen Abstimmung aus. Aus Angst,
ohne den erfahrenen 75jährigen Politiker Demirel im Präsidentenpalast
laufe die Türkei Gefahr, erneut in politische Unruhen zu geraten,
hat der 74jährige Regierungschef eine zweite Amtsperiode für
Demirel angestrebt und dem Parlament die Verfassungsänderung zur
Abstimmung vorgelegt. Ecevit ignorierte hartnäckig die ablehnende
Reaktion des Parlaments bei der ersten Abstimmung in der vergangenen
Woche. Er weigerte sich auch, Umfragen zur Kenntnis zu nehmen, wonach
rund 70 Prozent der Bevölkerung eine zweite Amtsperiode Demirels
ablehnen. Ecevit glaubte, er brauche nur die 352 Abgeordneten seiner
Dreiparteienkoalition zu disziplinieren, um seinen Willen durchsetzen
zu können. Für die Abstimmung über die Verfassungsänderung
wurden spezielle farbige Stimmzettel angefertigt. Weiss bedeutete Ja,
Rot stand für Nein und Grün für Abstinenz. Kurz vor der
Abstimmung am Mittwoch plädierte Ecevit gar für eine offene
Abstimmung und machte den Parlamentariern vor, was er damit meinte.
Ohne seinen Stimmzettel wie vorgeschrieben in ein Couvert zu stecken,
liess der Regierungschef seinen weissen Zettel für alle sichtbar
in die Urne fallen. Die Chefs seiner zwei Koalitionsparteien, der Rechtsnationalist
Bahceli, der Konservative Yilmaz, sowie die Oppositionsführerin
Ciller folgten seinem Beispiel. Der einzige, der diese Vorgabe nicht
respektierte und seinen Stimmzettel nicht allen zeigte, war der Islamistenchef
Kutan. Das absurde Vorspiel im Parlament wurde von den Abgeordneten
offensichtlich nicht goutiert, und sie rebellierten gegen das Diktat
ihrer Parteiführer.
Stabile Regierung
Für Demirel sei die Abstimmung ein Schlag ins Gesicht, schrieb
sein ehemaliger Presseberater Ilnur Cevik und forderte in den «Turkish
Daily News», dass die Koalitionspartner für diese Erniedrigung
einen Preise zahlen müssten. Demirel hat während fast eines
halben Jahrhunderts die Geschicke der Nation bestimmt und konnte während
seiner Präsidentenschaft grosse Machtbefugnisse auf sich vereinigen.
Eine zentrale Rolle spielte er vor allem in der Aussenpolitik, etwa
in den Beziehungen Ankaras zu den turksprachigen Republiken Zentralasiens
und des Kaukasus. Demirel, der zweimal von der Armee aus dem Amt des
Ministerpräsidenten geputscht wurde, hatte in den letzten Jahren
eine Brückenfunktion zwischen der mächtigen Armeeführung
und den Politikern inne. Nun muss er die Präsidentenresidenz Cankaya
am 16. Mai für immer verlassen.
Trotz Ecevits schwerer Niederlage erweist sich seine Koalition als
erstaunlich stabil. Die Regierung werde ihre harmonische und entschlossene
Zusammenarbeit fortsetzen, erklärte Ecevit nach der Abstimmung.
Noch vor einer Woche hatte er im Falle einer Ablehnung der von ihm angestrebten
Verfassungsänderungen mit dem Rücktritt seiner Regierung gedroht.
Laut der Presse sind die Verhandlungen unter den Koalitionspartnern
über den Nachfolger des heutigen Präsidenten bereits im vollen
Gang.
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