Berliner Zeitung 08.04.2000 Rau fordert die türkische Regierung zu Reformen auf Bundespräsident sieht einen langen Weg bis zum EU-Beitritt Peter Pragal ANKARA, 6. April. Bundespräsident Johannes Rau hat von der Türkei als Voraussetzung für die Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft Reformen und den Schutz der Menschenrechte gefordert. Wer sich auf den Weg in die EU begeben habe, müsse wissen, "dass es auf seine Fortschritte ankommt, wann er das Ziel erreicht", sagte Rau am Donnerstag in einer Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Technischen Nahost-Universität in Ankara. Für eine Türkei, die den Beitritts-Kriterien entspreche, müsse lebhafter demokratischer Streit zwischen politischen Meinungen selbstverständlich sein, sagte Rau. Eine beitrittsfähige Türkei werde alle Bevölkerungsgruppen achten und schützen, "auch jene, die türkische Staatsbürger sein, aber ihre kulturellen Eigenheiten behalten wollen", fügte Rau mit Blick auf die kurdische Minderheit hinzu, ohne diese namentlich zu erwähnen. Wer sich für Europa entscheide, müsse wissen, dass sich die EU auf prinzipielle Werte gründe. Respekt vor religiösen Überzeugungen sei kein Widerspruch zum Prinzip eines säkularen Staates. Sprachliche, kulturelle und ethnische Vielfalt und ihre Anerkennung bedeuteten nicht Teilung und Verfall der staatlichen Einheit. Toleranz und Pluralismus seien das Gegenteil von Separatismus. Rau appellierte an die Türkei und an die EU-Staaten, ehrlich miteinander umzugehen. Beide hätten noch einen langen Weg bis zum Beitritt vor sich. Der Bundespräsident war zuvor mit Präsident Süleyman Demirel zusammengetroffen, der noch bis Mitte Mai Staatsoberhaupt ist. Auf dem Programm standen ferner ein Besuch im Parlament und ein Gespräch mit Ministerpräsident Bülent Ecevit. Demirel räumte vor der Presse Menschenrechtsverletzungen in der Türkei ein. Sie seien jedoch keine offizielle Politik, sondern gingen auf das Konto von untergeordneten Staatsdienern, die für die korrekte Anwendung der Gesetze nicht ausreichend erfahren und ausgebildet seien. Die Regierung sei bemüht, solche Verletzungen der Menschenrechte auf ein Minimum zu reduzieren und abzuschaffen. Demirel führte zur Entschuldigung an, dass sich der Staat viele Jahre mit einem "separatistischen, blutigen Terror" habe auseinander setzen müssen. Die mögliche Lieferung deutscher Panzer an die Türkei war nach offiziellen Angaben bei der Unterredung kein Thema. Demirel sagte jedoch, sein Land beziehe die Hälfte seiner Waffen aus Deutschland. Die aktuellen Probleme lägen auf deutscher Seite. Seit Jahrzehnten beziehe die Türkei Waffen ausschließlich zur Verteidigung und nicht, um sie gegen andere einzusetzen, "schon gar nicht gegen die eigene Bevölkerung". Rau dankte der Türkei dafür, dass sie nach 1933 vielen von den Nazis verfolgte Deutschen Zuflucht geboten habe. So wie damals die deutschen Emigranten ein Gewinn für die Türkei gewesen seien, so seien die aus der Türkei stammenden und heute in der Bundesrepublik lebenden Menschen ein Gewinn für Deutschland. Diese rund 2,5 Millionen Türken seien "Bindeglied und Brücke zwischen unseren Völkern". |