Frankfurter Rundschau 08.04.2000 Freund der Griechen, Freund der Türken An der Ostgrenze des Kontinents genießt Johannes Rau eine Anerkennung, die ihm zu Hause oft versagt wird Von Knut Pries (Ankara) "Manchmal sind die Erwartungen zu hoch", sagt Johannes Rau. Sie zu dämpfen ist daher fester Bestandteil seiner Amtsführung. Immer wieder wollen die Grenzen der eigenen Befugnis in der präsidialen Rede abgesteckt sein: Macht habe ich keine, komme nicht als Macher, sondern als Gesprächspartner, nicht um zu erledigen, sondern um "Anstöße zu geben". Johannes Rau bietet sich an als guter Freund. Ist das nun viel oder eher ein bisschen wenig? Das hängt davon ab, nicht nur vom korrekten Verständnis des beschränkten Auftrags, den das Grundgesetz dem Staatsoberhaupt erteilt. Zum Beispiel hängt es davon ab, was der Amtsinhaber daraus macht. Zwischen dem schlichten Verweis auf Unzuständigkeit und Impulsen, die man gibt, bleibt ja eine gewisse Spannbreite von Möglichkeiten. Die misst dieser Präsident mit unterschiedlicher Energie und Courage aus, auch auf seiner jüngsten Ausfahrt in den Osten Europas. Da gibt es Sätze hart am Nullwert der Erkenntnis: "Die Globalisierung macht nicht Halt vor den Menschen!". Wer das als "Anstoß" erleben will, muss schon extrem erregbar sein. Am anderen Ende der Skala stehen Raus Aussagen zur Frage deutscher Reparationen für Wehrmachtsverbrechen in Griechenland, zu denen er sich durchringt, nachdem ihm der persönliche Augenschein die Unzulänglichkeit der reinen Vermeidungsposition vermittelt hat. Auf dem Flug nach Athen meint er noch: "Ich kann nichts sagen zu dem, was als Rechtsstreit anhängig ist." Nach seinem Besuch am Massaker-Tatort Kalavryta kann er dann doch etwas mehr sagen, Gott sei Dank: dass warme Worte wohl nicht genug seien, dass sich die Frage stelle nach "einem symbolischen Betrag", dass er entsprechende griechische Erwartungen der Bundesregierung übermitteln werde, offenbar im Ton der Empfehlung. Der Wert guter Freundschaftsdienste hängt ferner ab von den Umständen. Dass diese im Falle der jüngsten, der zweiten großen Auslandsreise des Präsidenten Rau nach Griechenland und in die Türkei besonders günstig waren, kann man nicht behaupten. Selten hat so viel Innenpolitik den Glanz einer wichtigen Staatsvisite verfinstert. Die Griechen stecken in der Endphase eines schwierigen Wahlkampfs. Das, immerhin, war absehbar. Dass aber die beiden erfahrensten Langstrecken-Spezialisten der türkischen Politik, Ministerpräsident Ecevit und Präsident Demirel, es schaffen würden, pünktlich zum Eintreffen des Deutschen die Aufmerksamkeit ihres Volkes mit einer ausgewachsenen Führungskrise zu fesseln - das konnte wirklich keiner ahnen. Für die freundliche Miene, die er zu diesem unerfreulichen Spiel machte, hat der Bundespräsident viel eher das von einer deutschen Boulevard-Zeitung verliehene Prädikat "tapferer Johannes Rau" verdient als für den Gleichmut, mit dem er eine nur mäßig elegant überschminkte Gesichtsschramme durch die dichte Fülle der Protokoll-Termine trug. Was, fragt Rau, wäre denn die Alternative gewesen? "Wenn Sie eine solche Reise absagen, verursachen sie Enttäuschung." Das wird insofern eine vernünftige Einschätzung gewesen sein, als beide Länder durchaus Bedarf an Zuwendung Marke Rau haben. Die Griechen, wenig geliebtes Randmitglied der Europäischen Union, leiden unter dem Eindruck, dass man ihnen nicht zuhört; die Türken, misstrauisch beäugter Bewerber um die EU-Aufnahme, fühlen sich zwar wahrgenommen, aber beständig missverstanden. Außerdem lagen die vorigen Besuche eines deutschen Staatsoberhaupts - Richard von Weizsäckers - anderthalb Jahrzehnte zurück. Da war der schmal mit Macht, aber überreich mit Zuhörbereitschaft und Verständnisinnigkeit ausgestattete Gast in der Tat aufrichtig willkommen. Der Ehrentitel "Freund der Griechen" und "Freund der Türken" wurde ihm auf beiden Etappen vorbehaltlos zuerkannt: von Gesprächspartnern und Festrednern, von Pressekommentatoren und - soweit in Erscheinung tretend - vom gemeinen Bürger. Ihm war der Ruf vorausgeeilt, hier habe man es mit dem Vertreter einer - dünner werdenden - warmherzigeren Linie deutscher Politik zu tun; der als erschütterter Landesvater vor dem abgebrannten Solinger Wohnhaus der türkischen Familie Genç stand und als frisch gewählter Präsident Willy Brandts Versprechen guter Nachbarschaft ausdrücklich auf die Bürger mit fremdländischem Pass ausdehnte. So hat Rau an der Ostgrenze des Kontinents eine Resonanz genießen können, die ihm in der Heimat versagt wird: Sein Anspruch, nicht durch klug platzierte Grundsatzreden oder gar raffinierte Medienstrategie zu wirken, sondern schlicht als der gute Johannes des redlichen Worts, gilt zu Hause als peinliche Gedankenblässe. Im Ausland, zumal dort, wo die Empfindlichkeitsschwelle für schneidiger auftretende Germanen niedrig liegt, stößt dasselbe Angebot auf Anerkennung. Da gibt es Momente, wo alles passt. Am Freitag ist der Bundespräsident nach Bolu in der Nordwest-Türkei geflogen, wo die beiden verheerenden Erdbeben des vergangenen Jahres besonders schwere Schäden angerichtet haben. Rau besucht die - kleinen, aber durchaus properen - Notunterkünfte, die von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit mit einem Aufwand von über 22 Millionen Mark errichtet wurden. Keiner habe angesichts der "Katastrophe des Jahrhunderts" so schnell geholfen wie die Deutschen, lobt Demirel, der den Gast an den Rand der anatolischen Hochebene begleitet. Die Bewohner schwenken Fähnchen und jubeln. Cemal Taylan, dessen Behausung der Bundespräsident inspiziert, bemüht die einzige Vokabel seines aktiven deutschen Wortschatzes: "Wunderbar!". Und am Eingang zur Siedlung Karayollari halten einige ein Schild hoch: "Wir danken Ihnen herzlich, Herr Bundespräsident - Ihre türkischen Mitbürger aus Köln!". Was soll man da noch groß sagen? "Ich wünsche Ihnen allen den Segen Gottes, den Sie Allah nennen", sagt Rau. Überhaupt seine Mitbürger - davon hat er so einige getroffen auf dieser Reise: Menschen, die in der Bundesrepublik über die Jahre vom "Gastarbeiter" zum "Migranten" wurden und irgendwann in die Heimat zurückgekehrt sind, wo sie in der Rhetorik des Bundespräsidenten nun den einen Pfeiler einer "Bindebrücke" bilden, deren anderer die Griechen und Türken in der Bundesrepublik sind. Sie kommen aus Sindelfingen, Düsseldorf, Köln und, wie der Zufall so spielt, immer wieder aus Wuppertal. Da ist Rau in seinem Element, aufgeräumt, alert und frei von der steifen Schwergängigkeit, die ihn mitunter älter wirken lässt, als er ist. Und was ist mit der hohen Politik, soweit sie denn Platz hatte neben den Besichtigungen, Empfängen und in den innenpolitisch beschäftigten Köpfen der Gastgeber? In Griechenland war da, von der Reparationsfrage abgesehen, nicht viel zu erörtern. In der Türkei profitiert Rau von einer Klima-Verbesserung, die sich nach dem Ende des bewaffneten Konflikts mit den Kurden und besonders nach der Aufwertung des Lands zum EU-Kandidaten entwickelt hat. Die Deutschen, die dies mit betrieben haben, stehen nicht mehr wie zu Helmut Kohls Zeiten in Verdacht, die Türkei als unchristliches Land aus der Union heraushalten zu wollen. So erregt der Bundespräsident mit seinen Bemerkungen zum "langen Weg", den das Land bis zur Beitrittsfähigkeit vor sich habe, genau so wenig Anstoß wie mit seinen Appellen zur Verbesserung des Schutzes der Menschen- und Bürgerrechte. Nur der türkische Buddha Demirel, gegen dessen Unverwüstlichkeit sich Helmut Kohl als Kurzfrist-Phänomen ausnimmt, lässt den Kollegen mit den alten Ausflüchten ("Verstöße gibt's woanders auch") abfahren. Ecevit hingegen zeigt sich sehr willig, die nötigen Reformen einzuleiten, bedauert unaufgefordert, dass der Menschenrechtler Akin Birdal ausgerechnet kurz vor dem Rau-Besuch wieder ins Gefängnis gesteckt wurde. Den Vorwurf, diese unfreundliche Geste zu leisetreterisch hingenommen zu haben, will die deutsche Delegation nicht gelten lassen. Rau hat sich mit Menschenrechtlern getroffen und den gastgebenden Politikern mitgeteilt, dass er auch Birdal gern dabeigehabt hätte. Was hätte man sonst tun können? Das ist dann wohl wieder ein Fall von zu hohen Erwartungen. |