Süddeutsche Zeitung 08.04.2000 Staatsbesuch in der Türkei Rau sieht "positive Entwicklung" bei den Menschenrechten Bundespräsident kritisiert aber Inhaftierung Birdals / Fertighäuser für Erdbeben-Opfer übergeben Ankara/Bolu (AFP/dpa/AP) - Bundespräsident Johannes Rau hat am zweiten Tag seines Staatsbesuchs in der Türkei nach einem Treffen mit türkischen Menschenrechtlern gesagt, er sei sehr erfreut, eine "positive Entwicklung" bei den Menschenrechten feststellen zu können. Es gebe aber noch zusätzlichen Bedarf, besonders bei Erziehung und Schule, in der Aus- und Fortbildung von Polizei und Justiz sowie bei der Umsetzung von Gesetzen. Die Vertreter der Menschenrechts-Gruppen übergaben Rau einen 25-Punkte-Katalog mit Forderungen, in denen sie Verbesserungen in den Menschenrechtsfragen anmahnen. Der Bundespräsident bedauerte, dass der ehemalige Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Akin Birdal, trotz der Verletzung bei einem Attentat im Gefängnis sitzt. Er habe diesen Fall bei den staatlichen Stellen angesprochen und Birdal Grüße ausrichten lassen. Rau bat um eine ausführliche Dokumentation der Menschenrechtslage, die er dem Bundestag weiterleiten will. Aus Delegationskreisen verlautete, der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit habe im Fall Birdal auf die Unabhängigkeit der Gerichte hingewiesen. Rau hatte die Türkei bereits am Donnerstag zu Reformen und zur Achtung der Menschenrechte aufgerufen. Bevor ein EU-Beitritt der Türkei Wirklichkeit werden könne, hätten beide Seiten noch einen langen Weg vor sich, sagte Rau. Zum europäischen Rechtsstaat gehöre auch der Schutz der Menschenrechte, die Abschaffung der Todesstrafe und das Verbot von Folter. Die Türkei habe bereits wichtige Reformen eingeleitet, müsse diesen Weg aber weiter gehen. Nach dem Treffen mit den türkischen Menschenrechtlern flog Rau gemeinsam mit Präsident Süleyman Demirel nach Bolu, das im vergangenen Jahr von zwei schweren Erdbeben erschüttert wurde. Dort übergab der Bundespräsident offiziell eine Fertighaus-Siedlung, die mit finanzieller Hilfe aus Deutschland entstanden ist. Berlin unterstützte dort mit 22 Millionen Mark die Errichtung von 1500 Wohneinheiten für die Erdbebenopfer. Demirel nannte die deutsche Hilfe eine "Geste der wahrhaftigen Freundschaft". Bis zum November soll die Bevölkerung der Stadt im Norden Ankaras wieder in dauerhaften Unterkünften untergebracht sein. Der Bundespräsident äußerte sein Beileid für die Toten des Bebens. Für die Überlebenden "brauchen wir die helfende Tat", sagte Rau. Bei den Erdbeben waren im August und November vorigen Jahres mehr als 18 000 Menschen ums Leben gekommen. Atomkraftgegner in Gewahrsam Die türkische Polizei nahm am Freitag im Süden des Landes 85 Atomkraftgegner in Gewahrsam. Wie die türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, wollten die Umweltschützer in der Provinz Icel Informationsmaterial verteilen. Im südtürkischen Akkuyu, etwa 350 Kilometer östlich von Antalya, soll das erste türkische Atomkraftwerk entstehen. Umweltschützer kritisieren den geplanten Bau. Nach Angaben von Geologen liegt das Kraftwerk inmitten eines erdbebengefährdeten Gebiets. |