taz 11.4.2000 Der virtuelle Prozess Sonnur (23) und Nese (21) sollen führende Kader der DHKP-C sein. Sicher ist: Sie tragen gemäßigten Girlie-Stil aus Celle HEIKE HAARHOFF Strecke und Ziel der Fahrt unterliegen strengster Geheimhaltung. Alles andere käme einem Selbstmord gleich. Spitzel, Denunzianten und so genannte Staatsschützer lauern überall. Der Mann im Wagen weiß das. Es ist nicht einmal sicher, ob er seine Begleiterin eingeweiht hat, wohin die Reise geht. Hinter der Hamburger Stadtgrenze bremst die Fahrerin: Polizei. Ausweiskontrolle, Festnahme. Ihn haben sie gesucht, ihn werden sie als Serefettin Gül, Deutschlandverantwortlicher der verbotenen türkischen linksextremistischen Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung, versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu zehn Jahren Haft verurteilen. Sie lassen sie nach kurzer Zeit wieder laufen. Wenig spricht dafür, dass die Waffe unter dem Fahrersitz ihr gehört. Dem Verfassungsschutz gilt die Frau als unbeschriebenes Blatt. Es ist der 12. September 1997. Zwei Jahre später veröffentlicht der Generalbundesanwalt seine Zweifel an dieser Version. Also ein Strafverfahren gegen die Fahrerin sowie ihre jüngere Schwester. Der Vorwurf: "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung." Es ist das erste Mal in der bundesdeutschen Prozessgeschichte, dass Frauen innerhalb der DHKP-C einer Funktionärsführerschaft bezichtigt werden. Die Schwestern: Mehr als Zuträger? Das Oberlandesgericht Celle will nach einem guten Dutzend Verhandlungstagen heute das Urteil verkünden. Das höchstmögliche Strafmaß liegt bei zehn Jahren Haft; die Verteidigung hat auf Freispruch plädiert, der Vertreter des Generalbundesanwalts auf jeweils eineinhalb Jahre zur Bewährung. Denn die Frau am Steuer soll nicht bloß eine Fahrerin, sondern bestens im Bild gewesen sein über die Aktivitäten der Volksbefreiungspartei-Front. Die propagiert im Internet die "Revolution" gegen "faschistische Regime" und will den "Befreiungskampf" für das "unterdrückte türkische Volk" führen. Mit Brandanschlägen auf türkische Einrichtungen in Deutschland, mit Tötung von Parteifeinden, mit Bestrafung politischer Abweichler. 1998 ließ der Bundesinnenminister die Front verbieten. Nicht, dass sie daran beteiligt gewesen wäre. Aber die Frau am Steuer soll all das gewusst und gebilligt haben, und nicht nur sie, sondern auch ihre jüngere Schwester: Die beiden hätten Anfang 1997 die Leitung des DHKP-C-Parteigebiets Hannover übernommen und seien dort bis Mitte 1998 "führende Funktionärinnen" gewesen. Zudem hätten sie im August 1997 an einer DHKP-C-Veranstaltung in Köln teilgenommen, auf der Tötungsbefehle gegen "Verräter" ausgesprochen worden wären. Die Fahrerin sei bis Februar 1999 auch verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit gewesen. In ihrem Auto fand die Polizei 2.000 Exemplare der DHKP-C-Zeitschrift Kurtulus. Die Fahrerin und ihre Schwester schweigen. Schweigen zur Anklage, schweigen, als sie vom Vorsitzenden Richter zu ihrer politischen Haltung gefragt werden, schweigen, als belastende Zeugenaussagen und Protokolle abgehörter Telefongespräche verlesen werden. Es ist, als könne sie nichts aus der Ruhe bringen. Vielleicht, weil ihre Ruhe nichts Antrainiertes hat. Vielleicht, weil die Chancen für sie nicht schlecht stehen und die Beweisaufnahme schwierig ist. Es ist die Sehnsucht der Frauen nach Befreiung, Emanzipation, Freiheit. Die Frauen werden in linken türkischen Gruppen als gleichberechtigt akzeptiert. Dass auch Frauen in Kampfbrigaden kämpfen, gilt als Märtyrertum. Der Hauptbelastungszeuge, ein Parteiabtrünniger, war jahrelang Spitzel für den Verfassungsschutz und ist abgetaucht. Einer anderen Zeugin, die eine der Schwestern auf einem Foto wieder erkannt haben will, droht selbst ein Verfahren und will sich nicht durch eine Aussage vor Gericht belasten. Und der einzige Zeuge, einst Parteimitglied, der in Celle erschien und seitdem zu seinem Schutz an unbekannter Stelle untergebracht ist, wusste nur zu berichten, dass die Angeklagten seiner Erinnerung nach die Gebietseinheit Hannover vertreten hätten. Aber selbst wenn das stimmt: Reicht das, sie der Führerschaft einer terroristischen Organisation zu überführen? Der Vertreter des Generalbundesanwalts sagt ja. Bereits die Gefährlichkeit der Organisation, die Akzeptanz von Schusswaffengebrauch, Tötungsdelikten und anderen strafrechtlichen Verstößen müsse zur Bestrafung führen. Die Verteidigung sagt nein. Niemand könne so nachweisen, dass die beiden Frauen Mitglied, geschweige denn Kader einer terroristischen Vereinigung innerhalb der DHKP-C gewesen seien. Die Benachrichtigung höherer Chargen, der Verkauf von Publikationen und die Sammlung von Spenden für eine - wenn auch verbotene - Organisation hätten mit Terrorismus nichts zu tun. Und als wäre diese Art der Prozessführung nicht virtuell genug, mühen sich Ankläger und Verteidiger, anhand von Urteilen anderer Gerichte, DHKP-C-Satzungen, Gutachten des Bundeskriminalamts, Protokollen abgehörter Telefongespräche und übersetzter Propagandabroschüren, zusammen etwa 50 Aktenordner, das Gericht von ihrer jeweiligen These zu überzeugen. Die Fahrerin und ihre Schwester immerhin haben eine Staatsangehörigkeit (türkisch), ein Alter (23 und 21), real existierende Vornamen (Sonnur und Nese) und einen Nachnamen, der aus Persönlichkeitsschutz unveröffentlicht bleibt. DHKP-C-Anhänger in Deutschland sind gewöhnlich sehr jung. Sie haben sehr früh erfahren, dass ihre türkischen Landsleute häufig benachteiligt werden. Das Engagement in einer solchen Organisation erscheint da oft als sinnvolle Alternative, auch für Frauen. Staatliche Repression, Folter politisch Andersdenkender und Menschenrechtsverletzungen, die in Kurtulus angeprangert werden, fanden in der Türkei statt. Sonnur und Nese sind in Heidelberg geboren. Die Familie, seit 1973 in Deutschland, zog 1979 nach Hannover um, wo die beiden ihre Jugend und Schulzeit verbrachten und noch heute bei ihrer Mutter leben. Der Vater starb 1997. Die Fragen, welches Verhältnis die beiden Frauen zum türkischen Staat haben und wer ihre politische Sozialisation geprägt hat, bleiben unbeantwortet. Zuweilen spricht Oberstaatsanwalt Peter Müssig, ein ruhiger Vertreter seiner Zunft um die 50, in Verhandlungspausen wohlwollend von "den beiden Mädchen". Und wäre da nicht die Sache mit der terroristischen Vereinigung, der Zuspruch wäre ihm gewiss: Die Haare lang und offen, die Kleidung im gemäßigten Girlie-Stil moderner Kaufhausketten, die Körperhaltung sehr aufrecht, ziehen die beiden Verhandlungstag für Verhandlungstag hinter schusssicheren Glasscheiben in den Hochsicherheitstrakt des Oberlandesgerichts ein. Manchmal, wenn gerade wieder Urteile und andere Protokolle verlesen werden, flüstern sie mit ihren Anwälten. Zu verstehen ist nichts, und die Blicke verraten auch nichts: keine Freude, keine Bestürzung, nicht einmal Desinteresse. Manchmal begegnet man ihnen in Pausen auf der Damentoilette, wo sie freundlich "hallo" erwidern; zu einem Gespräch sind sie nicht bereit. Es ist nur ein scheinbares Paradox, dass sich Jugendliche hier für den Befreiungskampf in der Türkei engagieren. Viele türkische Jugendliche in Deutschland wachsen mit einem Informationshorizont auf, der türkisch ist. Das gilt für Frauen stärker als für Männer, weil Frauen sehr viel weniger in die deutsche Umwelt hinausgelassen werden. Nese, die Jüngere, besuchte nach der Realschule die Höhere Handelsschule, war arbeitslos, wurde vom Arbeitsamt gefördert und hofft nun auf einen Ausbildungsplatz im kaufmännischen Bereich. Sollte das nicht klappen, sagt ihr Anwalt, wolle sie ihre Ausbildung an der Abendschule fortsetzen. Presseanfragen werden ignoriert Sonnur, die Ältere, wollte nach der Hauptschule Abitur machen, brach aber in der 12. Klasse ab und jobbt seit 1997 in Pizzerien, Gebäudereinigungsfirmen, Schuhgeschäften und derzeit für 500 Mark in einem Kiosk. Sonnur, sagt ihre Anwältin, habe Pläne. Sie wolle das Abitur nachmachen, ab Dezember die Abendschule besuchen, danach vielleicht Sozialpädagogik studieren. Das politische Engagement junger Türken der zweiten Generation ist auch zurückzuführen auf die Orientierungsprobleme, die ihre Situation mit sich bringt. Es gibt viele Karrieren, die sich durch Rebellion auszeichnen: gegen das autoritäre Elternhaus, gegen die deutsche Mehrheitsgesellschaft und nicht zuletzt auch gegen die Türkeitürken. Eine revolutionäre Mitgliedschaft in einer Gruppe, die in der Türkei wie in Deutschland existiert, vermittelt die Hoffnung, sie könne die Unterschiede aufheben helfen zumindest zwischen deutschen Türken und türkischen Türken. Wer weiter fragt, wer wissen will, was Sonnur und Nese politisch antreibt, der kann genauso gut versuchen, einen Stein zum Reden zu bringen. Die Verteidiger, das Rechtsanwaltsehepaar Klawitter aus Hannover, haben mehr als ein Dutzend Presseanfragen um ein Hintergrundgespräch ignoriert. Auch die "Prozessgruppen zu den DHKP-C Prozessen", die via Postfachadresse, Handy, Fax und E-Mail erreichbar sind und gewöhnlich keine Inhaftierung, keinen Prozess und keinen Hungerstreik unkommentiert lassen, geben diesmal keine Stellungnahme ab. Wie auch? Der Zuschauerraum ist an fast allen Verhandlungstagen leer. "Das geht hier um Türken gegen Türken, deswegen interessiert sich da keiner für", meint der Pförtner. Bei Staatsschutzverfahren vor zehn Jahren, sei es gegen die PKK oder IRA, zog es die politisch Interessierten noch in Scharen nach Celle. Vor zehn Jahren reiste Oberstaatsanwalt Peter Müssig noch im gepanzerten Wagen; heute, sagt er, fahre er wieder Zug. Vielleicht hat sich einfach nur die Zeit geändert. Diese klassisch marxistisch-leninistisch orientierten Gruppen leben in einer Vorstellungswelt, die dem hiesigen terroristischen Stand der Achtzigerjahre entspricht. Sie haben noch die Utopie der Revolution im Kopf. Interne Analysen zeigen, dass Frauen in solchen Gruppen häufig noch radikaler in ihren politischen Überzeugungen sind als Männer. Ob sie noch etwas hinzufügen möchten, fragt der Richter. Das letzte Wort haben die Angeklagten. Es lautet: "Nein." |