Frankfurter Rundschau 14.4.2000 Eine blitzblanke Anstalt zum Vorzeigen Im Jugendstrafvollzug liegt in der Türkei viel im Argen und es gibt nur zaghafte Reformen mit Blick auf die EU Von Canan Topçu (Ankara/Istanbul) Mesut modelliert aus Ton eine Vase. In der Werkstatt der Besserungsanstalt Ankara erlernt der 17-Jährige Kunsthandwerk und hofft, dass er damit nach seiner Entlassung Geld verdienen kann. "Ich habe einen Mann umgebracht", sagt der Jugendliche mit gleichgültiger Stimme. Über Einzelheiten spricht er nicht. Mesut ist einer der 93 Insassen der Einrichtung, die dem türkischen Justizministerium untersteht. Dort verbüßen männliche Jugendliche im Alter zwischen zwölf und 21 Jahren ihre Strafe. Verurteilt sind sie wegen Totschlags, Raubs, Vergewaltigung oder Diebstahls. Mesuts Verfahren hat drei Jahre gedauert. Die Zeit bis zu seiner Verurteilung habe er in Untersuchungshaft verbracht, in einem Gefängnis, berichtet der junge Mann mit den kurzgeschorenen Haaren. Mesut spricht es nicht aus, aber gibt zu verstehen, dass er das Schlimmste hinter sich hat. Die Zustände in türkischen Gefängnissen sind berüchtigt: Offiziell werden junge Straffällige, sofern sie nicht in einer der beiden Jugendjustizanstalten untergebracht werden, in separate Abteilungen gesteckt. Doch ist es kein Geheimnis, dass es in vielen Haftanstalten nicht einmal getrennte Zellen gibt und die Jugendlichen immer wieder sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind. Bekannt ist auch, dass junge Insassen die Drecksarbeit machen müssen: Sie reinigen die Sanitäranlagen und Zellen, in die bis zu 20 Häftlinge gepfercht sind. Das türkische Strafgesetzbuch schreibt vor, dass Verurteilte zwischen zwölf und 18 Jahren, in Ausnahmefällen auch bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, ihre Strafe in Besserungsanstalten abzusitzen haben. Dass die drei Einrichtungen bei weitem nicht ausreichen, zeigt die vom Justizministerium vorgelegte Statistik: 1999 lag die Zahl der Untersuchungshäftlinge zwischen zwölf und 20 Jahren bei 6200, die der Verurteilten bei 4500. In den Besserungsanstalten stehen etwa 450 Plätze zur Verfügung. In die Einrichtung am Stadtrand von Ankara werden Jugendliche aus den mittelanatolischen Provinzen nach ihrer Verurteilung verlegt. "Drei und mehr Jahre dauern die Gerichtsverfahren", berichtet Seda Akco, Mitglied der Kinderrechtskommission bei der Anwaltskammer Istanbul. "Das türkische Rechtssystem müsste dringend reformiert werden", fordert die Juristin. Der Staat mache sich mitschuldig an den Straftaten von Kindern und Jugendlichen, zumal es kaum ernsthafte Bestrebungen gebe, den Kreislauf der Delinquenz zu unterbrechen. Die Juristin nennt die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Türkei als Hauptursache für Straftaten von Kindern und Jugendlichen: "Gerade in den Großstädten führen Armut, zerrüttete Familienverhältnisse und Verwahrlosung zu Kriminalität und Gewaltbereitschaft." Die Besserungsanstalt Ankara ist die Vorzeigeeinrichtung schlechthin. "Jeweils zwei Ärzte, Psychologen und Pädagogen sowie fünf Sozialarbeiter sind hier im Einsatz", berichtet Anstaltsleiter Vedat Engin. Dass die Fachkräfte den einzelnen Jugendlichen kaum Zeit widmen können, bleibt unerwähnt. Ausländische Delegationen, die sich über den Jugendstrafvollzug in der Türkei informieren möchten, werden von Mitarbeitern des Justizministeriums durch die Einrichtung mit Sportplätzen, Werkstätten, Bibliothek, Schlaf-, Aufenthalts- und EDV-Räumen geführt. Alles ist blitzblank, sämtliche Gebäude - Hauswirtschaftsbereiche eingeschlossen - sind den Besuchern zugänglich. Sogar das Fotografieren ist erlaubt. Allerdings passen die Angestellten genau auf, was aufs Bild kommt. Es ist nicht gern gesehen, dass "Schmuddelecken" oder sich in Renovierung befindliche Räume abgelichtet werden. "Es könnte falsch gedeutet werden", meint Necati Nursal, Referent für Öffentlichkeitsarbeit im Justizministerium. Und "Missverständnisse" will die Behörde auf jeden Fall vermeiden, schließlich geht es darum, die Botschaft zu übermitteln, dass in den Besserungsanstalten für das Wohl der Jugendlichen gesorgt wird, dass die Insassen Lesen und Schreiben lernen, einen Schulabschluss machen und sogar ein Handwerk erlernen können. Immerhin laufen in den drei Erziehungsheimen in Ankara, Izmir und Elazig Resozialisierungsprogramme. Sozialarbeiter und Psychologen sind auch in den beiden Jugend-Untersuchungsgefängnissen in Ankara und Istanbul tätig. Wie sehr aber die Betreuung der jungen Delinquenten im Argen liegt, davon berichtet eine für den Jugendstrafvollzug zuständige Mitarbeiterin des Justizministeriums erst nach den offiziellen Terminen. "Wir haben ungeheuer große Probleme und nicht einmal vernünftige Statistiken, um uns ein Bild über die Straffälligkeit von Kindern und Jugendlichen zu machen", räumt die Ministerialrätin ein. Das liege vor allem an der zentralistischen Verwaltung. Sie wisse, dass beispielsweise die Niederlande und Deutschland sich sehr stark für ambulante Maßnahmen und Resozialisierungsprogramme für jugendliche Delinquenten engagierten. In der türkischen Gesellschaft sei hingegen die Auffassung verbreitet, dass "Schuldige" - unabhängig vom Alter und sozialen Kontext - zu bestrafen sind. "Ich schäme mich, wenn ich daran denke, wie sehr wir hinterherhinken", bekundet die Beamtin. An den Gesetzen scheitere es eigentlich nicht. Wohl aber an deren Umsetzung, weil es an finanziellen Mitteln, an qualifiziertem Personal und an Kontrollinstanzen fehle. Im Großen und Ganzen seien die jungen Straffälligen sich selbst überlassen. Jugendgerichtshilfe fehle gänzlich, und die Nachbetreuung durch soziale Einrichtungen stecke noch in den Kinderschuhen. Immerhin engagieren sich seit ein paar Jahren verstärkt regierungsunabhängige Organisationen (NGO) und Stiftungen im Jugendstrafvollzug, betreuen ehrenamtliche oder von NGOs finanzierte Fachkräfte die jungen Straffälligen. Das Jugendgerichtsgesetz wurde in der Türkei erst 1979 verabschiedet. Wegen Personalmangels dauerte es drei Jahre, bis es in Kraft trat. Es sieht unter anderem vor, dass in Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern so genannte Kindergerichte geschaffen werden, in denen die Verfahren der Zwölf- bis 15-Jährigen verhandelt werden. Derzeit gibt es entsprechende Institutionen nur in Ankara, Izmir, Istanbul und Trabzon; in anderen Städten haben die Richter die Anweisung, das Jugendgerichtsgesetz anzuwenden. Beim Kindergericht in Istanbul beispielsweise befassen sich sieben Richter jährlich mit etwa 8000 Akten und fällen rund 2000 Urteile. Kein Wunder, dass pro Gerichtsverhandlung kaum mehr als fünf Minuten vorgesehen sind, dass die Richter erst während der Verhandlung in die Akten schauen, um sich über den Sachverhalt zu informieren. Gutachten über das soziale Umfeld und die psychische Verfassung der jungen Delinquenten, so wie es das Gesetz vorsieht, werden von den Richtern lediglich in etwa drei Prozent der Fälle angefordert. "Wenn wir welche liefern, wirken sie sich aber kaum auf das Urteil aus", berichtet Sevda Daglar, die als Psychologin beim Kindergericht in Istanbul arbeitet. Auch dann, wenn der Richter auf Grund des Gutachtens statt einer Haftstrafe eine Maßnahme zur Resozialisierung anordne: Entsprechende Einrichtungen für die Umsetzung seien nämlich kaum vorhanden. "Die Kindergerichte arbeiten ganz nach der Abschreckungsmethode", erklärt die Psychologin. Wer an einer Verhandlung teilnimmt, kann sich selbst ein Bild von der absurden Situation machen. Der Staatsanwalt, der Richter und die beiden Beisitzer sitzen, in Roben gewandet, auf einem hohem Podest, an der Wand hinter ihnen hängt ein Bild des Staatsgründers Atatürk. Das angeklagte Kind steht zwischen dem Verteidiger und dem Kläger und hört nur mit Mühe die Stimme des Richters, da das Protokoll auf einer laut ratternden manuellen Schreibmaschine angefertigt wird. Das türkische Strafgesetzbuch unterteilt Minderjährige in drei Altersgruppen. Kinder bis elf Jahre sind nicht strafmündig; Zwölf- bis 15-Jährige verbüßen die Hälfte der nach allgemeinem Strafrecht verhängten Strafen. Bei Delinquenten zwischen 16 und 18 Jahren reduziert sich die Strafe um ein Drittel, wobei die Höchststrafe bei sieben Jahren liegt. Seit 1997 liegt dem Parlament ein Gesetzesentwurf vor: Entsprechend der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die die Türkei bereits im September 1990 unterschrieb, sollen alle unter 18-Jährigen unter das Jugendstrafrecht fallen. In den kommenden Wochen soll das Parlament darüber entscheiden. "Die Türkei als Betrittskandidat ist bemüht, sich den EU-Standarts anzunähern", bekundet die Ministerialrätin. Im Bereich des Jugendstrafrechts und des Strafvollzugs fehle es allerdings an Know-how. |