Nürnberger Zeitung 22.4.2000 Im Kaukasus geht es den Amerikanern ums große Geschäft, nicht um den kleinen Mann Das Öl fließt an den armen Teufeln von Tiflis vorbei TIFLIS (NZ). - Selten noch haben die Geopolitik und die Öl-Interessen einen größeren Sieg über die Menschenrechte errungen als im letzten November. Damals saßen die Präsidenten Clinton (USA), Schewardnadse (Georgien), Demirel (Türkei), Najsow (Turkmenien), Nasarbajew (Kasachstan) und Alijew (Aserbaidschan) einträchtig im Istanbul zusammen. Bei ihrem Gespräch "am Rande" der OSZE-Konferenz wurden weit über den Kaukasus hinaus die Politik-Leitlinien bis zum Jahr 2030 gezogen. Es wurde die Baku-Tiflis-Ceyhan-Ölpipeline beschlossen. Durch die 1730 Kilometer lange Leitung soll 2004 das erste Öl fließen. Bei dieser abseits der offiziellen Politik stattgefundenen Konferenz hätte der Menschenrechtsbeobachter gern Mäuschen gespielt. Dabei wurde beschlossen, dass man Russland in Tschetschenien freie Hand lässt - unter der Bedingung, dass sich Moskau keinen Übergriff auf Georgien erlaubt. Bekanntlich hatten 1991 russische Truppen gemeinsam mit Freischärlern aus Abchasien versucht, das von Abchasen und Georgiern bewohnte Gebiet im Nordwesten Georgiens von der alten Landmasse Georgiens abzuspalten. Es war ein letzter vergeblicher Versuch Russlands, eine der politischen Entwicklungen wieder rückgängig zu machen, die unter Gorbatschow zur Gründung der GUS, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, führten. Sieg der USA Im Kaukasus hat ein Wechsel der Paradigmen stattgefunden. Nicht mehr Russland hat das Sagen und bestimmt damit über die großen Erdölreserven des Kaspischen Meeres und Aserbaidschans. Die USA haben hier Erfolg gehabt, allerdings um den Preis des Verrats der Menschenrechte. Die Pipeline kennt keine Demokratie, kei ne freien Wahlen, keinen Rechtsstaat. Die Pipeline wird das Erdöl aus Aserbaidschan nach Europa, in die USA und Kanada pumpen, sie wird nicht mehr nördlich des Kaukasus durch die instabilen Republiken Tschetschenien und Dagestan gehen, also durch russisches Territorium. Diese Pipeline wird auch nicht zum Schwarzen Meer (und dann durch den Bosporus) führen, weil die USA das Schwarze Meer trotz erheblicher Anstrengungen noch nicht kontrollieren. Die "Big Pipe" wird durch Aserbaidschan, dann Georgien, dann durch die osttürkischen und kurdischen Gebiete der Türkei führen und dann den Mittelmeer-Hafen Ceyhan oder Jeikhan erreichen. Befindet sich doch das Mittelmeer fest in der Hand der westlichen Allianz. Das ist ein gewaltiger Sieg der USA im Nach-Kalten Krieg, der 1999 ja wieder zu einem Kühlen Krieg im Irak, im Kosovo und in Tschetschenien zu werden drohte. Es ist gleichzeitig eine Niederlage für die Entwicklung einer Welt, die sich nach dem Kalten Krieg geschworen hatte, mit einer ganz neuen Weltordnung die Menschenrechte zu sichern. Diejenigen, die geglaubt hatten, dass nach dem Ende des Roten Imperiums die Rechte der Menschen und Völker eine größere Rolle spielen, sind betrogen worden. Und die europäischen Politiker, ganz gleich welcher Couleur, haben sich dieser Geopolitik ganz schön angepasst. Auch der Außenminister der Grünen, Joschka Fischer. Die Verlierer Wer zahlt den Preis? Der kleine Mann, die kleine Frau. Ich erlebte ihr tägliches Elend in einem Hinterhof von Tiflis, in einer Suppenküche der georgischen Caritas. Die große Masse der Bevölkerung wird von den Mächtigen nur als Störfaktor ihrer makroökonomischen Interessenpolitik gesehen. Da gibt es die vielen verlassenen alten Leute, die 40 bis 60 Jahre gearbeitet haben, denen die Familien weggelaufen oder die Ehepartner weggestorben sind. Ihre wenigen Spargroschen sind mit den alten sowjetischen Banken verschwunden. Diese Alten haben nichts mehr, sie sind ins Bodenlose gefallen. Sie bekommen eine Normrente von 13,5 LARI (georgische Währung, ein LARI enspricht etwa einer Mark). So sind diese Menschen ganz dringlich auf das eine warme Essen der Caritas angewiesen. Das gesamte Sozialnetz der alten ex-sozialistischen Staaten ist zusammengebrochen. Diese neuen unabhängigen Staaten sind drauf und dran, das alte Zerrbild des Manchester-Kapitalismus zu erfüllen, das Friedrich Engels vor anderthalb Jahrhunderten in der "Lage der arbeitenden Klassen" beschrieben hat. 60 Prozent der georgischen Bevölkerung haben keine geregelte und bezahlte Arbeit. Deshalb sind bereits eine Million Georgier ins Ausland, nach Russland, weggezogen oder nach Armenien, in die Ukraine. Die alten Menschen haben es besonders schwer. Aber auch schwangere Frauen gehen elend zu Grunde, weil es niemanden gibt, der ihnen einen Kaiserschnitt macht - und wenn sie doch jemanden finden, können sie ihn nicht bezahlen. Ein sterbendes Dorf In dem Ort Turcch, der von Armeniern bewohnt ist, gibt es eine medizinische Ambulanz, die nur aus leeren Räumen und zerbrochenen Fensterscheiben besteht. Alle alten Krankengeschichten sind aufbewahrt. Aber den Blutdruckmesser und das Stethoskop nimmt der einzige Arzt der Region mit nach Hause, weil er fürchtet, dass beides gestohlen wird. Dieser Ort stirbt. Einige der Holzhäuser mit den Zinkdächern sind schon verschlossen, die Fenster mit Pappe zugedeckt. Die Bewohner ziehen aus, die Armenier in Georgien gehen nach Russland. Dorthin zieht es sie, weil sie dort vielleicht eine Arbeit bekommen. Oder sie gehen in das nahe gelegene Armenien. Der Versuch der Caritas, hier mit polnischen Patres, großen Kirchenbauten und Glockenstühlen noch eine gewisse Normalität aufrechtzuerhalten, wirkt hilflos. Deutschlands Chance Deutschland genießt in Georgien den größten Respekt. Das drückt sich schon in der Autonummer mit der großen römischen "I" für die deutsche Botschaft aus, die amerikanische Botschaft hat erst die Nummer II. Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher haben für Eduard Schewardnadse und die Georgier gekämpft, als das Land im Abchasien-Strudel unterzugehen drohte. Kohl hat bei der G-7-Konferenz die Abchasien-Frage auf die Tagesordnung gesetzt und seinen ganzen Einfluss aufgeboten, um Boris Jelzin dazu zu bringen, mit den Georgiern einen Waffenstillstand abzuschließen. Das war im Mai 1993. Diese Linie wird ganz offenbar von der derzeitigen Bundesregierung unter dem Kanzler Gerhard Schröder fortgeführt. Kurz vor den Wahlen am 10. März landete Kanzler Gerhard Schröder mit einer Delegation in Tiflis. Die deutsche Regierung tut allerdings nicht genug, um ihren Einfluss zu nutzen. Von Georgien werden wir in den nächsten Monaten und Jahren noch viel hören. Wenn es gut geht in Georgien, werden in den nächsten fünf Jahren Zigtausende Deutsche dort ihren Urlaub verbringen. Steht es Georgien schlecht, werden die Buchungen halt wieder gestundet. |