Der Tagesspiegel 26. April 2000 Präsidentenwahl in der Türkei Verfassungsrichter Sezer: Eine gute Wahl - geboren aus der Not der Regierung Thomas Seibert Zurückhaltend und kamerascheu zu sein, ist in der Türkei normalerweise nicht gerade eine Empfehlung für eine Bewerbung um das höchste Staatsamt. Doch bei Ahmet Necdet Sezer ist das anders. Der 58-jährige Vorsitzende des Verfassungsgerichts in Ankara ist ein Vollblutjurist ohne politische Vergangenheit oder Parteibindung - und genau das empfiehlt ihn der türkischen Regierungskoalition als Präsidentschaftskandidaten. Premier Bülent Ecevit und seine Koalitionspartner konnten sich - vor allem wegen der Ambitionen des Koalitionspolitikers Mesut Yilmaz - nicht auf einen Politiker aus ihren eigenen Reihen einigen und verständigten sich deshalb auf Sezer als angesehene Persönlichkeit von außerhalb des Parlamentes. Es ist eine gute Wahl - wenn auch aus der Not geboren. Selbst für die Opposition - die Islamisten und die konservative Partei des Rechten Weges der früheren Ministerpräsidentin Tansu Ciller - ist Sezer ein tragbarer Präsident, was die Bestätigung durch das Parlament erheblich beschleunigen dürfte. Die Vorsitzenden der drei Koalitionsparteien und die Chefs der beiden Oppositionsparteien im Parlament unterzeichneten am Dienstagnachmittag gemeinsam die Nominierung Sezers für das Präsidentenamt - ein Novum in der türkischen Parlamentsgeschichte, wie Ecevit betonte. Mit einer Wahl Sezers zum Staatspräsidenten würden jene Kräfte in der Türkei gestärkt, die sich für mehr Demokratie und eine weitere Annäherung an Europa einsetzen. Denn in seiner bisherigen Amtszeit machte er sich als streitbarer Verfechter demokratischer Werte einen Namen. Bekannt wurde Sezer vor allem mit einer gefeierten Grundsatzrede vor einem Jahr, in der er vom Parlament durchgreifende Reformen verlangte. Seine Forderungen waren so radikal-demokratisch, dass das europäisch-liberale Lager im Land aufjauchzte: Stärkung der Meinungsfreiheit und offizielle Zulassung der kurdischen Sprache. Auch PKK-Chef Abdullah Öcalan zitierte in seinem Hochverrats-Prozess auf Imrali aus dieser Rede des Richters. Als Staatspräsident hätte Sezer zwar wenig konkrete Befugnisse; auch wird er sich wie seine Vorgänger hüten müssen, den Machtanspruch der Militärs in Frage zu stellen. Doch als höchster Vertreter des Staates kann er - ähnlich wie der deutsche Bundespräsident - durch Reden und Gesten öffentliche Debatten anstoßen oder beeinflussen. Der Regierungskoalition dürfte klar sein, dass Sezer als Staatspräsident von diesen Möglichkeit regen Gebrauch machen würde. Seine Nominierung ist deshalb ein Zeichen für die Ernsthaftigkeit ihres Reformwillens - und ein Signal ans Ausland, insbesondere die Europäer. Doch noch ist es nicht soweit. Zwischen dem Beschluss der Koalition und der Vereidigung des zehnten Präsidenten der türkischen Republik steht noch die Wahl durch das Parlament. Die Verfassung sieht bis zu vier Wahlgänge vor, von denen der erste am Donnerstag stattfinden soll. In den ersten beiden Runden braucht ein Kandidat die Zweidrittelmehrheit in der Volksvertretung, in den letzten beiden Wahlgängen reicht die absolute Mehrheit der Stimmen. Dank der breiten Unterstützung müsste Sezer schon am Donnerstag zum Präsidenten gewählt werden. Trotz der Entscheidung der Koalitionsführung für Sezer reichte am Dienstag der Parlamentspräsident Yildirim Akbulut - ein prominenter Politiker der Regierungspartei ANAP - trotzig seine eigene Kandidatur ein. |