HANDELSBLATT 26.4.2000

DIHT sieht in Mittel- und Osteuropa Defizite bei Übernahme des Gemeinschaftsrechts

Deutsche Wirtschaft plädiert für spätere EU-Erweiterung

Als erster Wirtschaftsverband hat der Deutsche Industrie- und Handelstag seine zeitlichen Vorstellungen für die EU-Osterweiterung genannt: Polen soll 2005, Tschechien erst 2006 beitreten.

ink BERLIN. In der deutschen Wirtschaft wachsen die Bedenken gegen eine schnelle Osterweiterung der Europäischen Union (EU). So spricht sich der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) gegen eine Aufnahme osteuropäischer Staaten bereits im Jahr 2003 aus. In dem Positionspapier "Europa 2000 plus", das dem Handelsblatt vorliegt, wird für Ungarn und Slowenien als Beitrittstermin das Jahr 2004 empfohlen. Für Polen wird als realistischer Zeitpunkt dagegen das Jahr 2005 gesehen. Und erst im Jahr danach, also 2006, sollte ein Beitritt der tschechischen Republik und Estlands ins Auge gefasst werden. Für die Länder der zweiten Beitrittsgruppe wie die Slowakei oder Bulgarien werden gar keine Termine genannt.

Die Zahlen sind brisant, weil etwa die polnische Regierung nach wie vor einen Beitritt bereits im Jahr 2003 anstrebt. Als Grund für die späteren Termine wird von den Autoren des DIHT-Positionspapiers angeführt, dass der bisher angenommene Zeitplan nicht mehr realistisch sei. Zwar werden die wirtschaftlichen Fortschritte in den meisten Kandidatenländern hervorgehoben. Aber etwa Polen habe für die Übernahme des EU-Gemeinschaftsrechtes immer noch 180 Gesetze zu erlassen oder zu novellieren. Auch wenn die Regierung in Warschau ihr Ziel erreiche, bis Ende 2002 den so genannten Acquis communautaire zu übernehmen, bleibe nur wenig Zeit und Energie, gleichzeitig auch für eine Umsetzung der Gesetze zu sorgen. Deutsche Unternehmen brauchten aber die Gewissheit, dass nach einem Beitritt EU-Regelungen sofort gelten und man sich auf die entsprechende Spruchpraxis der Gerichte verlassen könne, sagte Torsten Klette, Osteuropaexperte beim DIHT. Gleichzeitig fordert der DIHT die EU-Regierungen in dem Grundsatzpapier auf, sich rasch über die institutionellen Reformen zu einigen, um die Union überhaupt aufnahmefähig zu machen.

Mit der DIHT-Stellungnahme mehren sich die Stimmen in Deutschland, die vor Illusionen bei den Beitrittsverhandlungen warnen. Erst vor wenigen Tagen war eine Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht worden, in der aus ökonomischer Sicht die Zeit um das Jahr 2006 als ideales Beitrittsdatum empfohlen wird. Auch im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) betont man, gegenüber der "früheren euphorischen Politik sei ein gewisser neuer Realismus" angebracht. Ziel müsse es sein, möglichst geringe Übergangsfristen auszuhandeln, sagte der Leiter der europapolitischen Abteilung beim BDI, Bernhard Welschke. Wichtig sei die ständige Neubewertung der wirtschaftlichen Realität. Auf Jahreszahlen wolle man sich nicht festlegen. Die Qualität der Verhandlungen müsse Vorrang vor der Terminsetzung haben. Auch Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) hat mehrfach gesagt, Sorgfalt sei bei den Verhandlungen wichtiger als der Zeitplan. Voraussetzung für einen Beitritt sei die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien. In der Staatskanzlei in München wird darauf verwiesen, dass bei der Erweiterung um Spanien und Portugal sieben Jahre zwischen der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen und dem Beitritt gelegen hätten.

Der europapolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Norbert Wieczorek, wies gegenüber dem Handelsblatt darauf hin, dass es die Bundesregierung stets vermieden habe, feste Beitrittstermine zu nennen. Es gebe nur das erklärte Ziel der EU, bis Ende 2002 aufnahmefähig zu sein, sagte er. Erst dann könnten die einzelnen Mitgliedstaaten der EU über die Ergebnisse der Beitrittsverhandlungen entscheiden. Der Ratifizierungsprozess dauere 12 bis 18 Monate.