Der Tagesspiegel 27. April 2000 Präsidentschaftswahlen in der Türkei Sezer stößt nicht nur auf Zustimmung Thomas Seibert Zur späten Stunde ging es vor dem Parlamentsgebäude in Ankara zur Sache. Als Staatsminister Sadi Somuncuoglu von der rechtsradikalen Regierungspartei MHP mit seiner Limousine vorfuhr, um seine Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten einzureichen, bekam er es mit seinen Parteifreunden zu tun. Der bullige MHP-Abgeordnete Cemal Enginyurt ging auf den Dienstwagen des Staatsministers los und schrie, Somuncuoglu solle sofort zurücktreten. Was Enginyurt so wütend machte, war die Tatsache, dass Somuncuoglu gegen die Parteilinie handelte, und die heißt: Die MHP unterstützt wie die anderen vier Parteien im Parlament die Kandidatur von Verfassungsgerichtspräsident Ahmet Necdet Sezer. Der 58-jährige Jurist soll schon im ersten Wahlgang an diesem Donnerstag vom Parlament zum Nachfolger von Präsident Süleyman Demirel gewählt werden. Neben Sezer, der dem Parlament nicht angehört, bewerben sich zwölf Abgeordnete um das höchste Staatsamt, davon sieben aus den Reihen der Regierungsparteien. Allein dies zeigt, dass Sezer nicht überall auf breite Zustimmung stößt. Dabei hatten sich die Chefs von Koalition und Opposition viel Mühe gegeben, um nach wochenlangem Gerangel um das Präsidentenamt Einigkeit zu zeigen: Die Chefs aller fünf im Parlament vertretenen Parteien setzten ihre Unterschriften unter die Kandidatur Sezers. Trotz dieses Drucks der Parteioberen auf die fünf Fraktionen im Parlament vermochte am Mittwoch niemand sicher vorauszusagen, ob Sezer gleich im ersten Anlauf die nötige Zweidrittelmehrheit von 367 Stimmen erhalten wird. Vor dem ersten Wahlgang wiesen die Gegner Sezers auf Schwächen des Verfassungsgerichtspräsidenten hin, der sich durch seine Kandidatur jäh im Rampenlicht wiederfindet, bisher aber so wenig in der Öffentlichkeit auftrat, dass er nur drei Anzüge besitzt: An der Spitze des Staates müsse ein Polit-Profi und kein Laie stehen, sagte Parlamentspräsident Yildirim Akbulut, der sich ebenfalls bewirbt. Doch spätestens nächste Woche dürfte der Aufstand der Partei-Desperados in sich zusammenbrechen. Denn Sezer braucht nur in den ersten beiden Wahlgängen die Zweidrittelmehrheit; in der dritten und in der ebenfalls noch möglichen vierten Runde genügt dagegen die absolute Mehrheit von 276 Ja-Stimmen. Und die dürften auf jeden Fall zusammenkommen. Ahmet Necdet Sezer sollte sich also schleunigst noch ein paar Anzügezulegen. |