Der Standard 27.04.00 Ahmet Necdet Sezer soll Präsident der Türkei werden Seine einzige Leidenschaft ist der Rechtsstaat Jürgen Gottschlich Der Kontrast könnte kaum größer sein. Wenn Ahmet Necdet Sezer heute, wie vorausgesagt, vom türkischen Parlament gewählt wird, bekommt die Türkei einen Präsidenten, der sich fundamental von seinem Vorgänger unterscheidet. Das beginnt bereits beim Auftreten. Während Süleyman Demirel jovial, lärmend und schulterklopfend durch die Dörfer zog und den "Baba" mimte, ist Necdet Sezer ein introvertierter Intellektueller, der sich der Öffentlichkeit am liebsten entzieht. Am Tag nach seiner Nominierung, als sich die gesamte türkische Presse vor dem Verfassungsgericht versammelt hatte, benutzte er den Hintereingang, um zu seinem Büro zu kommen. Während Demirel in seiner vierzigjährigen politischen Karriere jeden Trick des politischen Handels beherrschen lernte und deshalb immer für einen Deal zu haben war, eilt Ahmet Necdet Sezer der Ruf voraus, ein Mann zu sein, dessen einziges Interesse es ist, in der Türkei die Souveränität des Rechts durchzusetzen. Sezers größtes Manko als zukünftiger Staatspräsident ist seine mangelnde außenpolitische Erfahrung. Während Demirel mit allen Präsidenten und Regierungschefs der Nachbarländer, speziell im Kaukasus und Zentralasien, bestens vertraut ist, hat Sezer seine gesamte Karriere innerhalb des türkischen Justizapparats verbracht. Als Ministerpräsident Bülent Ecevit gefragt wurde, ob die mangelnde politische Erfahrung seines Kandidaten nicht ein Problem sei, und was er sich von einem Präsidenten Necdet Sezer erwartet, sagte er: "Sezer wird die Entwicklung zum demokratischen Rechtsstaat beschleunigen", und das sei für die Türkei auch die vordringlichste Aufgabe. Sezer ist wie Ecevit ein asketischer Typ, der immer etwas mürrisch dreinschaut und dem man abnimmt, dass er absolut unbestechlich ist. Man kann sich unschwer vorstellen, dass es für Sezer ein Graus ist, wenn sein Privatleben zum Gegenstand öffentlichen Interesses wird. Entsprechend schwer haben es die türkischen Medien zurzeit, den zukünftigen Präsidenten als Mensch zu präsentieren. Außer seinen biografischen Daten, geboren 1941 in Afyon, verheiratet, drei Kinder, weiß man kaum etwas über ihn. Allerdings konnte es Ahmet Necdet Sezer als Präsidentschaftskandidat nicht verhindern, dass öffentlich über seinen Gesundheitszustand geredet wird. Er hatte vor zwei Monaten eine Bypassoperation, sein Arzt erklärte gestern jedoch, Sezer sei vollständig genesen und körperlich dem Amt problemlos gewachsen. Die Sezers leben unter eher bescheidenen Bedingungen, Frau Semra Sezer ist pensionierte Volksschullehrerin. Eine Gemeinsamkeit mit Demirel haben die Medien dann doch noch herausgefunden: Sezer hat dasselbe Gymnasium in Afyon besucht wie Demirel. |