Neue Luzerner Zeitung (CH) 27.04.00

Türkei: Der Chef des Verfassungsgerichts als europatauglicher Einheitskandidat

Verfassungskritiker als neuer Staatspräsident

Überraschend haben sich die türkischen Parteien auf einen Staatspräsidenten geeinigt. Er verkörpert die Sehnsucht nach Reformen.

Selten findet die politische Welt der Türkei zu solcher Einmütigkeit. Kommentatoren bemühten gestern Begriffe wie «historisch» oder «nahezu einzigartig in der Geschichte der türkischen Republik». Alle fünf im Parlament vertretenen Gruppierungen gaben am Dienstagabend nach einer Marathonsitzung ihre Zustimmung zur Kandidatur Ahmet Necdet Sezers für das Amt des Staatspräsidenten. Der derzeitige Chef des Verfassungsgerichtes dürfte heute bereits im ersten Wahlgang vom Parlament gewählt werden. Der Türkei bleibt so eine schwere politische Krise erspart, die viele befürchtet hatten, nachdem Ministerpräsident Ecevit mit seinem Versuch gescheitert war, die Amtsperiode des scheidenden 76-jährigen Präsidenten Demirel durch Verfassungsreform auf weitere fünf Jahre zu verlängern.

Blütenweisse Weste

Sezer repräsentiert eine neue Generation von Türken, die das Land auf den Weg der Reformen und schliesslich in die Europäische Union führen sollten. Der 59-jährige Richter hat sich als hoch integrer Mann Ansehen verschafft. Sein makelloser Leumund in finanziellen Fragen besitzt besonderes Gewicht in einem Land, in dem das Krebsgeschwür der Korruption bis hinauf in die höchsten Staatskreise wuchert. Sezer, der an der Universität von Ankara seine Rechtsstudien absolvierte, übt das Richteramt seit 1983 aus, als er zum Mitglied des Obersten Gerichts ernannt wurde. 1988 berief ihn der damalige Präsident Evren ins Verfassungsgericht, zu dessen Vorsitzenden er zehn Jahre später gewählt worden war.

Differenziertes Demokratiebild

Der Vater von drei Kindern gilt als persönlich bescheiden und eher wortkarg. Er liebte es bisher nicht, durch Stellungnahmen zu kontroversen Themen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen. Dennoch fühlte er sich im Vorjahr zu einer scharfen juristischen Erklärung über die Verfassung und den Stand der Demokratie im Lande gedrängt, die einiges Aufsehen auslöste. Er kritisierte die Verfassung, ein Erbe der Militärdiktatur von 1980 bis 1983, die grundlegende Freiheiten einschränke und die Rechte des Staates über jene des Individuums stelle. Er kritisierte Gesetze, die insbesondere Kurden und Islamisten knebeln und oft ins Gefängnis bringen. Zudem ­ das betonte er dieser Tage erneut ­ räume die Verfassung dem Präsidenten Rechte ein, die weit über jene einer parlamentarischen Demokratie hinausgingen. «In einem demokratischen Staat ist es nicht akzeptabel, dass der Präsident Macht mit dem Parlament teilt, das den Willen der Nation repräsentiert und wichtige Entscheidungen trifft.» Im Gegensatz zu seinen Vorgängern Özal und Demirel ist Sezer nicht mit dem Ränkespiel der türkischen Politik vertraut. Ob Sezer, wenn er seinen Grundsätzen treu bleibt, mit den allmächtigen Militärs ein ebenso gutes Verhältnis aufzubauen vermag wie sein flexibler Vorgänger, bleibt abzuwarten.

BIRGIT CERHA, NIKOSIA