Badische Zeitung 28.4.20000 Die Präsidentschaftswahl geht in die zweite Runde, doch der Sieger scheint bereits festzustehen Sezer - Hoffnungsträger für Istanbul Von unserem Korrespondenten Jürgen Gottschlich ISTANBUL. Ahmet Necdet Sezer ist vor allem eins: eine Überraschung. Bis die drei Parteichefs der türkischen Regierungskoalition ihn wie das berühmte weiße Kaninchen aus dem Hut zauberten, sprach in der Öffentlichkeit niemand von ihm. Für die meisten Türken ist der Vorsitzende des Verfassungsgerichts ein weitgehend unbekannter Mann. Jetzt wird er höchstwahrscheinlich zum neuen Präsidenten des Landes gewählt. Und das sogar mit Unterstützung der beiden Oppositionsparteien, die islamistische "Fazilet" und die "Partei des rechten Weges" von Tansu Ciller. Damit könnte die Krise der Regierung Ecevit doch noch ein überraschend schnelles Ende finden. Seit der Ministerpräsident vor zwei Wochen, unter anderem an seinem Koalitionspartner Mesut Yilmaz, mit dem Wunsch scheiterte, den amtierenden Präsidenten Demirel für eine weitere Amtszeit zu wählen, standen die Zeichen in der türkischen Politik wieder auf großer Umgewissheit: Würde die Koalition sich auf einen neuen gemeinsamen Kandidaten zusammenraufen oder würde die Suche nach einem neuen Präsidenten letztlich damit enden, dass das Parlament nach vier vergeblichen Wahlgängen aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben werden? Tagelang schwirrten etliche Kandidatennamen durch die Debatten, wurden von den Medien immer neue Favoriten gekürt, bis sich dann, nur 24 Stunden vor Ablauf der Nominierungsfrist, die Koalition doch noch auf den gemeinsamen Kandidaten Necdet Sezer einigte. Mit Sezer käme erstmals in der türkischen Geschichte ein Vertreter des Rechts auf den Präsidentensessel, den in der Vergangenheit vorzugsweise Generäle oder altgediente Politiker besetzten. Sezer hat seine gesamte Karriere in der Justiz verbracht. Er war als Richter am obersten Revisionsgericht und wurde 1988, auf Vorschlag des damaligen Präsidenten Evren, Mitglied des Verfassungsgerichts. 1998 wählte das Kollegium ihn zum Vorsitzenden des Verfassungsgerichts. Im Gegensatz zu dem derzeitigen Chef des Revisionsgerichts, Sami Selcuk, der sich mehrfach spektakulär in die politische Auseinandersetzung eingebracht hat, ist Necdet Sezer ein eher trockener, zurückhaltender Typ. Allerdings hat auch er im vergangenen Herbst in seiner Rede zur Eröffnung des neuen Gerichtsjahres deutlich gemacht, dass er die türkische Demokratie für reformbedürftig hält. Insbesondere die Einschränkung der Meinungsfreiheit gehört nach Auffassung Sezers nach internationalen Standarts neu geregelt. Diese Passage seiner Rede gefiel sogar Abdullah Öcalan so gut, dass er sich in einer Stellungnahme darauf bezog. Sezers Engagement für mehr Meinugsfreiheit ist auch der Grund, warum die Islamisten seine Kandidatur unterstützen, obwohl Sezer Laizist ist. Unter seinem Vorsitz wurde die islamistische Wohlfahrtspartei, die Vorläuferin der Fazilet, verboten. Darüber hinaus ist Sezer ein Verfechter des Kopftuch-Verbots an den Universitäten. Deshalb geht Ecevit wohl davon aus, dass Sezer auch für die Militärs akzeptabel ist. Da der Präsident gleichzeitig oberster Befehlshaber ist, hatte Generalstabschefs Kivrikoglu noch vor einer Woche erklärt, die Streitkräfte erwarten, dass ein Mann aus der kemalistischen Tradition, der - im Gegensatz zu Mesut Yilmaz - in keinerlei Korruptionsaffären verstrickt ist, zum Präsidenten gewählt wird. Dass Sezer, obwohl beide Kriterien auf ihn zutreffen, dennoch kein Mann des Militärs ist und noch für manche Überraschung gut sein könnte, machte er unlängst während einer Rede zum Jahrestag der Verfassung deutlich: Er forderte, die von den Militärs 1982 neu geschriebene Verfassung zu demokratisieren, interne Entscheidungen des Militärs ebenfalls der zivilen Gerichtsbarkeit zu unterstellen und im Bereich des Ausnahmezustandes, im überwiegend kurdisch besiedelten Südosten des Landes, keine rechtsfreien Räume mehr zu dulden. So gesehen wäre Necdat Sezer das türkische Angebot an die EU. |