Neue Zürcher Zeitung (CH) 28. 04. 2000 Geplänkel um die türkische Präsidentschaft Der Richter Ahmet Sezer verpasst die Wahl im ersten Anlauf Der als Demokrat bezeichnete aussichtsreichste Kandidat für das Amt des türkischen Staatsoberhauptes, Ahmet Necdet Sezer, hat am Donnerstag im Parlament die für die Wahl nötige Zweidrittelmehrheit deutlich verpasst. Die zweite Wahlrunde findet am 1. Mai statt. Es wird vermutet, dass Sezer erst im dritten Anlauf als Nachfolger Demirels gewählt wird. it. Istanbul, 27. April Das türkische Parlament hat sich bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am Donnerstag erwartungsgemäss für keinen der insgesamt 11 Kandidaten entscheiden können. Mit 281 Stimmen rangierte der Präsident des Verfassungsgerichts, Ahmet Necdet Sezer, zwar an vorderster Stelle, konnte aber die für eine Wahl verfassungsmässig erforderliche Zweidrittelmehrheit von 367 Stimmen nicht erreichen. Das zweitbeste Resultat erlangte der islamistische Abgeordnete Nevzat Yalcintas mit 61 Stimmen. Es ist wenig erstaunlich, dass die 47jährige Abgeordnete der Demokratischen Linkspartei, Gonul Saray Alphan, welche als erste Frau in der Geschichte der Türkei für das höchste Staatsamt kandidiert hatte, in dem von Männern dominierten Parlament keine einzige Stimme erhielt. Der zweite Wahlgang wurde auf den 1. Mai festgelegt. Womöglich wird aber erst die auf den 5. Mai angesetzte dritte Wahlrunde eine Entscheidung bringen. Gemäss der Verfassung ist im dritten Durchgang nur die einfache Mehrheit im Parlament notwendig. Eine historische Nominierung? Als aussichtsreichster Kandidat steht in jedem Fall Sezer fest. Die Nominierung des 1941 in der westtürkischen Stadt Afyon geborenen Juristen war die wohl grösste Überraschung, die der türkische Ministerpräsident Ecevit seinen Partnern in der Koalitionsregierung wie auch dem Parlament bereitet hatte. In Erinnerung seiner jüngsten Niederlage im Parlament, als der Ministerpräsident sich vergeblich für eine zweite Amtszeit des amtierenden Präsidenten Demirel eingesetzt hatte, gab Ecevit die Nominierung Sezers erst im allerletzten Moment bekannt. Die mitregierenden Nationalistische Aktionspartei (MHP) und die konservative Mutterlandspartei (Anap) hatten faktisch keine andere Wahl, als diesmal dem Regierungschef Folge zu leisten. Ecevit zeigte sich über den Konsens zufrieden. Schwierigkeiten in den Präsidentschaftswahlen, so erklärte er, seien der politischen Stabilität abträglich. In einer für türkische Verhältnisse beispiellosen Einigkeit hatte auch die Opposition Sezers Kandidatur unterstützt. Seine Tugendpartei (Fazilet) werde alles daransetzen, damit Sezer schon im ersten Wahlgang gewinne, versicherte der Islamistenführer Kutan. Damit überraschte er viele seiner Parteimitglieder, denn Sezer war Präsident des Verfassungsgerichts, als die Vorgängerin der Fazilet verboten wurde. Auch die Vorsitzende der konservativen Partei des rechten Wegs, Ciller, hatte sich für die Kandidatur Sezers ausgesprochen. Die türkische Presse hatte den Konsens der Politiker anfänglich als ein historisches Ereignis bezeichnet. Als Vorsitzender des Verfassungsgerichts hatte Sezer die öffentliche Aufmerksamkeit mit Aufrufen für demokratische Reformen bereits früher auf sich gelenkt. Die höchste Pflicht des Staates sei es, dem Individuum zu dienen, sagte er etwa vor einem Jahr. Diese Forderung mag in Demokratien eine Selbstverständlichkeit sein. In der türkischen Öffentlichkeit, die nach dem letzten Putsch der Generäle 1980 lediglich die Pflichten des Bürgers gegenüber dem Staat kennengelernt hatte, hörte sich Sezers Aufruf wie eine revolutionäre Parole an. Popularität erlangte Sezer auch bei vielen Kurden, nachdem er erklärt hatte, jeder Bürger sei dazu berechtigt, seine Muttersprache zu sprechen. Der Gebrauch der kurdischen Sprache im privaten Bereich ist in der Türkei zwar erlaubt, in der Öffentlichkeit aber - etwa im Erziehungswesen oder in den Medien - nach wie vor strikte verboten. Sezer unterliess es schliesslich nicht, die Einschränkung der Meinungsfreiheit immer wieder zu brandmarken. Die von Sezer geforderten Reformen seien nichts anderes als die Erfüllung der von der EU geforderten Kopenhagener Kriterien, schrieb am Donnerstag der ehemalige Aussenminister Türkmen. Weitherum besteht die Hoffnung, dass der höchste Richter des Landes als Präsident die Türkei in die EU führen könnte. Eine Provokation der Armee? Am Wahltag wurden dann allerdings in den Kulissen Ankaras die ersten Zweifel über die Eignung des Kandidaten geäussert. In Frage gestellt wurde, ob Sezer mit seinen liberalen Vorstellungen nicht allzu rasch in Missgunst der mächtigen Militärführung gerate. Gemäss der Verfassung befehligt der Präsident die Armee und führt die Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrates. Während seiner Amtszeit war der amtierende Präsident Demirel darum bemüht, an diesen Sitzungen das empfindliche Gleichgewicht zwischen der zivilen Führung und den Generälen nicht zu stören. Ob auch Sezer zu diesem Balanceakt fähig ist, vermag niemand zu sagen. Zweifel äusserte auch die der Armee nahestehende rechtsnationalistische Zeitung «Ortadogu». Sie bezeichnete Sezer als einen Freund der Fundamentalisten und Separatisten. Der Kolumnist der «Turkish Daily News», Ilnur Cevik, warf Sezer vor, sich weder in Fragen der Aussenpolitik noch der Wirtschaft auszukennen. Zudem sei er im Gegensatz zu seinen Vorgängern, Özal und Demirel, mit den Intrigen der türkischen Politik nicht vertraut. Als grösseres Manko wirkte sich für Sezer allerdings der Umstand aus, dass er als Nichtmitglied des Parlaments die Mehrheit der Abgeordneten gegen sich hatte. Die Abgeordneten seien wegen des autoritären Stils ihrer Parteiführung, die wie in den vorigen Abstimmungen dem Parlament ihren Willen aufzwingen wollte, verstimmt, schrieb der liberale Kolumnist Mehmet Ali Birand. Sie stimmten gegen Sezer, um ihrer Führung eine Lektion zu erteilen. Wie die meisten Kolumnisten ist Birand aber davon überzeugt, dass Sezer spätestens beim Ende von Demirels Amtszeit Mitte Mai dessen Nachfolge antreten wird. |