Frankfurter Rundschau 29.4.2000

EIN BRIEF AUS ISTANBUL

Kontraste und morbider Charme

"Die Steine und die Erde Istanbuls sind aus Gold", heißt eine türkische Redewendung, die ihren Ursprung im Osmanischen Reich hat. Einst warfen die Sultane bei Festen und Feiern mit Goldstücken um sich, und das Volk suchte auf dem Boden nach den Münzen. Längst ist der Ausspruch ein Synonym dafür geworden, das in Istanbul jeder sein Glück machen kann. So verlassen Jahr für Jahr Tausende ihre Dörfer in der Hoffnung, sich hier eine Existenz aufbauen zu können.

Schon beim Blick aus dem Hotelzimmer werde ich mit dieser Situation konfrontiert. Nur ein paar Meter entfernt entsteht ein neues Gebäude. Obwohl noch ein Rohbau, dient es bereits als Herberge. Im Erdgeschoss haben nämlich Bauarbeiter ihr Quartier bezogen - Männer aus Anatolien, die hier als Hilfskräfte ihren Lebensunterhalt verdienen. Um Kosten für die Übernachtung einzusparen, nächtigen sie in dem Bau, der weder Fenster noch Türen, geschweige den Wasser- und Kanalisationsanschlüsse hat.

Jedesmal, wenn ich in Istanbul ankomme, stelle ich fest, wie sehr die Stadt wieder gewachsen ist. Es gibt inzwischen keinen Hügel mehr, der nicht - legal oder illegal - bebaut ist. Mittlerweile leben 15 Millionen Menschen in diesem Moloch. Mir ist der touristische Blick längst abhanden gekommen. Ich sehe überall den Verfall: Die historischen Viertel sind ihm gänzlich ausgesetzt. Feucht und modrig riecht es in den engen Gassen, nur noch jedes fünfte oder sechste Haus ist bewohnt. Absurderweise stehen sie unter Denkmalschutz, dürfen also nicht abgerissen werden. Kaum einer der Eigentümer kann aber die aufwendigen Restaurierungen bezahlen. Und die Stadtverwaltung hat dafür auch kein Geld über. Moderne Wohnblocks, lieblos entworfene Hochhäuser entstehen an Rande der Stadt, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Barracken der Armen.

Ein vom Verfall besonders betroffenes Viertel ist Beyoglu. Noch bis Mitte des Jahrhunderts lebte in diesem Stadtteil die nicht-muslimische Bevölkerung. Heute trifft man hier Tagelöhner und fliegende Händler, die Zahnbürsten, Kämme, Rasierklingen oder Kaugummis, bsauchbares und unnützes Zeug anbieten. Unübersehbar sind auch die kleinen Kinder, die mit flehender Stimme bis spät in die Nacht Papiertaschentücher verkaufen.

In Beyoglu halten sich in jüngster Zeit auch die Yuppies gern auf. Sie scheinen Gefallen zu finden an der morbiden Umgebung. Immer mehr Cafés und Kneipen, ganz nach europäischem Muster gestaltetet, entstehen in den Erdgeschossen der heruntergekommenen Jugendstilbauten. Serviert wird Cappucino statt türkischer Mokka, und wer Tee bestellt, bekommt bestenfalls einen Beutelaufguss. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, wenn ich in diesen Orten für ein Getränk so viel zahle, wie ein Arbeiter an einem Tag verdient. Und ich ärgere mich ständig über die wohlhabenden Istanbuler, die hemmungslos ihren Wohlstand vorführen.

Verkehr und Lärm, Staub und Dreck, die affektierten Reichen und die vielen verkrüppelten Bettler - schon nach ein paar Tagen strengt mich die Stadt so sehr an, dass ich nach ruhigen Plätzen Ausschau halte. Das allerdings erweist sich zunehmend als äußerst schwierig. Überall wird man mit lauter Musik beschallt und von ständig klingelnden Mobiltelefonen belästigt.

Den extremen Kontrast zwischen Armut und Wohlstand, zwischen Moderne und Tradition halte ich hier nur schlecht aus. Wenn ich aber in einer der weißen Fähren sitze, die den Bosporus entlang fahren, schwarzen Tee trinke und die Stadt von Ferne betrachte, dann versöhne ich mich mit ihr immer wieder,

Canan Topcu ist FR-Mitarbeiterin in der Frankfurter Lokalredaktion