Die Welt, 2.5.2000 Ahmet Necdet Sezer geht das Recht über alles Porträt Noch ist Ahmet Necdet Sezer allseits beliebt. Doch wenn der integre Jurist als Staatspräsident bei seinen Idealen bleibt, wird er einigen auf die Füße treten müssen Von Dietrich Alexander Der Mann ist in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung in der recht überschaubaren türkischen Politikerkaste, die sich traditionell gewissermaßen aus sich selbst zu rekrutieren pflegt. Seit der Einrichtung des Präsidentenamtes in der Türkei durch Mustafa Kemal "Atatürk" im Jahre 1923 waren alle neun Präsidenten hochrangige Politiker oder Militärs. Und sie beherrschten das vielschichtige Ränkespiel der Lobbyisten und die parteipolitische Arithmetik. Nicht so Ahmet Necdet Sezer. Er gehört keiner Partei an, besitzt kein Abgeordnetenmandat und mischt sich nur höchst ungern in die Politik ein, deren zuweilen schrille Töne (wir erinnern uns noch deutlich an den ehemaligen Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz, der in der Diskussion um die EU-Osterweiterung von "Lebensraum" für die Deutschen sprach) der bescheidene und wortkarge Intellektuelle verabscheut. Sogar vielen seiner Landsleute ist der 58-jährige Vater von drei Kindern bisher unbekannt. Und schließlich: Was ist von einem Mann zu halten, der schon vor seinem Amtsantritt bemängelt, dass sein zukünftiges Amt mit zu großen Vollmachten ausgestattet sei? Die Antwort muss lauten: viel. Denn Sezer geht es nicht um Macht. Er ist ein Mann des Rechts, und um eben dieses Recht, um das es in der Türkei nicht in allen Bereichen besonders gut bestellt ist, geht es ihm. Die Macht des Präsidenten übersteige die Grenzen der Demokratie, sagt er. Und: "In einem demokratischen Staat ist es nicht akzeptabel, wenn der Präsident die Macht des Parlaments bricht, das den Willen des Volkes repräsentiert." Damit meint Sezer das Vetorecht des Präsidenten und dessen Befugnis, unter bestimmten Bedingungen Neuwahlen anzusetzen. Zu den Ansichten des aufrechten Demokraten gehört auch diese: "Wenn Gedanken Verbrechen werden, wird es keine Demokratie geben." Sezer, der sich gestern mit seiner Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten dem zweiten Wahlgang stellte, unterscheidet sich in noch einem weiteren Punkt erheblich von seinen Kollegen der Politikerelite: Sezer ist integer und - besonders ungewöhnlich - mit einem makellosen Leumund ausgestattet, was finanzielle Dinge betrifft. Will heißen: Sezer ist nicht korrupt. Das können nicht besonders viele Spitzenpolitiker in der Türkei von sich behaupten - man denke nur an die einschlägigen Prozesse gegen Yilmaz oder Ciller. Sezer wurde 1941 als Sohn eines Lehrers im westanatolischen Afyon geboren, studierte Jura in Ankara und arbeitete nach seinem Wehrdienst in Südostanatolien als Richter. 1983 kam er ans Oberste Berufungsgericht in Ankara. Fünf Jahre später wurde der Jurist von dem Putschgeneral und Staatspräsidenten Kenan Evren zum Verfassungsgericht geholt, dessen Vorsitzender er 1998 wurde. Eine seiner ersten Amtshandlungen war das Verbot der islamistisch-fundamentalistischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi, RP) des früheren Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan. Das tragen ihm die Islamisten freilich nicht nach, denn Recai Kutan, Chef des RP-Nachfolgers Tugendpartei (Fazilet Partisi), hat dem neuen Präsidenten seine Unterstützung bereits zugesichert - wohl wissend, dass Sezer mit seinen hehren Vorstellungen von Recht und Moral die Verfassung ändern könnte, ja müsste. Solches käme sicherlich den Islamisten zugute, die noch immer ständig mit einem Parteiverbot rechnen müssen. Dass Sezer Kritik an der Verfassung nicht scheut, hat er bewiesen: Sie enthalte undemokratische Einschränkungen der Grundrechte, sagte er öffentlich und meinte damit etwa die Antiterrorgesetze, die sich gegen islamistische und kurdische Politiker richten. Das brachte ihm zusätzlich den Beifall der prokurdischen Demokratie-Partei des Volkes (Hadep) ein. Der überzeugte Laizist ist schließlich auch dem allmächtigen Militär nicht unangenehm, das sich seit Gründung der Republik als Hüter des Atatürk-Erbes begreift. Wenn man Sezer an seinen Worten messen will, dann müsste er auch die Rolle der Militärs und des von ihnen dominierten Sicherheitsrates hinterfragen. Ob die Freundschaft das übersteht, wird sich zeigen. Zuletzt kann auch Europa froh sein über diesen Präsidenten. Er verkörpert eine neue Generation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Türkei zunächst zu reformieren und dann in die Europäische Union zu führen. Noch ist Sezer "everybodys darling". Doch wenn er sein Amt und seine Ziele ernst nimmt, wird er einigen bald auf die Füße treten müssen.
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