Tagesspiegel, 2.5.2000 Türkische Erdbebenopfer in Not "Rumgescheucht wie junge Katzen" In der Türkei werden Betroffene der Katastrophe aus Feriensiedlungen geworfen, damit Beamte Urlaub machen können Susanne Güsten Für die einjährige Tochter der türkischen Familie Parlak waren die feuchtkalten Nächte im Zelt nach dem Erdbeben im vergangenen Jahr pures Gift. Doch für eine Behandlung der Lungenentzündung fehlt den Parlaks das Geld. Sie gehören zu jenen mehreren Tausend Menschen, die durch die Katastrophe alles verloren und völlig entwurzelt wurden. Und nun wird ihnen auch noch vom Staat übel mitgespielt: Die Familie war nach dem Beben in einem staatlichen Erholungsheim in Antalya untergekommen - doch nun müssen die Parlaks gehen. Denn der Sommer kommt, und die Beamten wollen Urlaub machen. Unmittelbar nach dem schweren Beben im vergangenen August, das 20 000 Menschen tötete und mehrere Hunderttausend weitere obdachlos machte, versprachen die türkischen Behörden den Opfern schnelle und unbürokratische Hilfe. Staatliche Feriensiedlungen an den Sonnenküsten im Westen und Süden des Landes wurden für die Erdbebenopfer geöffnet. Auch die Parlaks ergriffen die Gelegenheit, das Erdbebengebiet hinter sich zu lassen. Die Familie wohnte in der Stadt Degirmendere am Marmara-Meer, als das Beben zuschlug. Die Wohnung der Familie wurde bei dem Erdstoß am 17. August so schwer beschädigt, dass nichts mehr zu retten war. Wie Tausende anderer Erdbebenopfer zogen die Eltern mit ihren beiden Töchtern - der heute dreijährigen Sezen und der kleinen Melissa - in ein Zelt. Dort verbrachten sie fast ein halbes Jahr bei Regen und Kälte. Erst dann ergab sich die Chance, nach Süden zu ziehen. In Antalya fanden die Parlaks drei Monate lang Unterkunft im Erholungsheim des türkischen Forstministeriums. Doch nun müssen sie gehen. Als Reporter der türkischen Zeitung "Milliyet" vor kurzem Erdbebenopfer in dem Heim besuchen wollten, fanden sie nur noch die Parlaks vor - die anderen Familien waren bereits abgereist. Doch Mikail und Gülseren Parlak wussten nicht wohin mit ihren Kindern und ihrem Hab und Gut, das in ein paar Plastiktüten passt. Während die Journalisten mit der Familie sprachen, kam ein Angestellter der Heimleitung und rief der Familie zu: "Wenn Sie das Gelände heute nicht verlassen, hole ich die Polizei." Ein "Milliyet"-Reporter nahm die Verzweifelten schließlich bei sich zu Hause auf. Die Familie Parlak ist kein Einzelfall. Nach Angaben des Innenministeriums in Ankara wurden bis Ende März 1574 Erdbebenopfer aus Feriensiedlungen und anderen staatlichen Einrichtungen ausgewiesen. Viele kommen per Bus in ihre alte Heimat zurück, so auch die Familie Kücükler. Sie wurde vor wenigen Wochen aus einem Ferienheim für Postbeamte in Antalya geworfen. Nach neunstündiger Busfahrt kamen die Kücüklers in der Stadt Adapazari an, in der sie bis zum August-Beben gelebt hatten. Dort erwartete die fünfköpfige Familie nur die inzwischen halbverrottete, aus Brettern zusammengenagelte Notbehausung, die sie bei ihrer Flucht aus dem Erdbebengebiet zurückgelassen hatten. Nun suchen sie nach einem neuen Zuhause. "Wir werden hin- und hergescheucht wie junge Kätzchen", klagt Sema Isilay, die mit ihrer Familie ebenfalls in einer Feriensiedlung in Antalya vorübergehend Unterschlupf fand und nun gehen muss. Frau Isilay macht sich Sorgen um die Schulbildung ihrer Tochter. Sie war vor allem deshalb nach Antalya gegangen, weil das Mädchen in der Schule nicht zurückfallen sollte, denn im Erdbebengebiet gab es nach der Katastrophe monatelang keinen Unterricht. Metin Nakus, ein Familienvater, der nach dem Erdbeben ebenfalls in den Süden der Türkei floh, richtet deshalb einen Appell an die sonnenhungrigen Staatsbeamten: "Wir werden aus den Feriencamps geworfen, weil die Urlaub machen wollen. Bleibt doch wenigstens zu Hause, bis das Schuljahr zu Ende ist." Der Gouverneur der Provinz Antalya, Ertugrul Dokuzoglu, sagte das inzwischen zu.
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