Kölner Stadtanzeiger, 5.5.2000

Hintergrund

Grausige Geschichten aus Kurdistan

Anonyme Protokolle von Soldaten bringen die Autorin vor Gericht

Von Gerd Höhler

Wenn er überlebt, ist Mehmet ein Held. Wenn er fällt, ein Märtyrer. So will es die offizielle Propaganda. Aber in Wirklichkeit ist Mehmet ein armes Schwein. Mehmet ist der kollektive Spitzname für türkische Wehrpflichtige. Zweieinhalb Millionen von ihnen sind seit 1984, als die kurdische Arbeiterpartei PKK ihren bewaffneten Kampf aufnahm, in die Ost- und Südostprovinzen geschickt worden.

Der Kurdenkrieg hat seither nahezu 40 000 Opfer gefordert, darunter über 5000 Soldaten. Fast jede türkische Familie hat ihren Mehmet. "Mehmedin Kitabi", Mehmets Buch, heißt ein Sammelband, in dem 42 "Veteranen" des Kurdenkrieges ihre Erlebnisse schildern. In Anführungszeichen setzen muss man das Wort, weil keiner von ihnen älter ist als 30 Jahre. Aufgezeichnet hat die anonymen Interviews die Autorin Nadire Mater. Jetzt steht sie vor Gericht.

An diesem Freitag soll das bereits mehrfach angesetzte, aber immer wieder verschobene Verfahren vor einem Istanbuler Gericht fortgesetzt werden. Angeklagt ist die 50-jährige Frau wegen "Beleidigung der Streitkräfte und des Staates" nach Paragraph 159 des türkischen Strafgesetzbuches. Dass sich ein Staat "beleidigt" fühlen kann, ist nicht ganz leicht nachzuvollziehen.

Abgekupfert haben die Türken diesen merkwürdigen Tatbestand, wie den größten Teil ihrer Strafgesetze, aus den Gesetzbüchern des italienischen Faschisten Mussolini. Zu einer Revision dieser Paragraphen sieht auch jene Türkei, die nun an die Tür der EU klopft, bisher keinen Anlass. Nadire Mater wird der Prozess gemacht.

"Die Kommandeure führten uns Videos vor", erzählt ein Rekrut in Mehmets Buch. "Einer dieser Filme zeigt einen gefangenen angeblichen PKK-Kämpfer, ein halbes Kind noch, in einem Hubschrauber. Wo sind die anderen, fragen ihn die Soldaten und versprechen ihm: wir lassen dich frei, wenn Du es uns sagst. Er sagt irgendetwas, man kann ihn wegen des Lärms, den der Helikopter macht, nicht verstehen. Dann werfen die Soldaten ihn einfach aus dem Hubschrauber."

Wer im Krieg gegen die PKK gedient hat, muss über das, was er im Osten erlebte, schweigen. So bestimmt es das türkische Soldatengesetz. Aber unter dem Schutz der Anonymität drängten sich Dutzende ehemaliger Soldaten, der Schriftstellerin ihre traumatischen Erlebnisse ins Tonband zu diktieren. Die Interviews dokumentieren die Sinnlosigkeit des Kurdenkrieges, die sadistischen Methoden, mit denen die türkischen Soldaten zur Grausamkeit gedrillt werden und die Korruption der Offiziere, die sich sogar an den Rationen der Truppe bereichern.

Tausende junge Rekruten kehrten aus dem Kurdenkrieg als Invaliden zurück. Noch mehr hat der Einsatz in Südostanatolien zu seelischen Krüppeln gemacht. "Man hat uns für nichts verheizt", sagt ein Soldat. Ein anderer erzählt: "Die Kommando-Einheiten aus Bolu waren die härtesten.

Sie hatten merkwürdige Schlüsselanhänger. Ich fragte einen Soldaten: was ist das? Er sagte: Mensch, das sind Ohren! Sie schnitten den getöteten PKK-Terroristen die Ohren ab, legten sie in Coca-Cola, bis sich das Fleisch aufgelöst hatte und verwendeten dann den Knorpel als Schlüsselanhänger."

Ein Soldat berichtete, wie einige seiner Kameraden abgeschnittene Ohren von PKK-Kämpfern im Briefumschlag als Trophäen an die Familien schickten. Ein anderer Soldat zitiert seinen vorgesetzten Offizier mit dem Angebot: "Bring mir einen Kopf, und ich verkürze deinen Wehrdienst!"

Das brachte General Hilmi Ozkok, den Vizechef der türkischen Armee, in Rage. Natürlich nicht gegen seine Offiziere sondern gegen die Schriftstellerin Nadire Mater, die derart zersetzende Berichte verbreitete. Zwischen der Anzeige des Generals und der Anklage vergingen nur fünf Tage.