Stuttgarter Nachrichten, 5.5.2000 Türkei soll sich von Maulkörben trennen Außenseiter Ahmet Sezer steht vor der Wahl zum Präsidenten Ankara - Die Türkei steht vor dem Beginn einer neuen Ära. Wenn das Parlament in Ankara diesen Freitag zur dritten Runde der Präsidentenwahl zusammentritt, ist ein Erfolg des Verfassungsrichters Ahmet Necdet Sezer so gut wie sicher. Von unserem Korrespondenten THOMAS SEIBERT, Istanbul Sezer erhielt in den ersten beiden Wahlgängen mehr Stimmen als alle anderen Kandidaten zusammen. Da sein stärkster Rivale, Parlamentspräsident Yildirim Akbulut, seine Bewerbung um das höchste Staatsamt zurückgezogen hat, scheint der Weg des Juristen an die Spitze der türkischen Republik frei. Am Freitag benötigt er im Parlament nur noch die einfache Mehrheit von 276 Stimmen. Zuvor hatten dem politischen Außenseiter enttäuschte Abgeordnete gegen den Willen ihrer Parteichefs eine Zweidrittelmehrheit verwehrt. Mit dem Verfassungskritiker als Staatspräsident könnte in der Türkei innen- wie außenpolitisch ein neuer Wind wehen. Sezer hätte nach einem Amtsantritt am 16. Mai die Machtinteressen der Regierung und der Militärs auszubalancieren. Zu seinen Forderungen gehört, die Meinungsfreiheit in der Türkei nicht länger zu beschränken. Als Verfechter der Demokratisierung des Landes könnte Sezer die türkische EU-Kandidatur entscheidend voranbringen. Sezers Wahl im dritten Anlauf wäre für Ministerpräsident Bülent Ecevit ein Durchbruch, auf den er lange gewartet hat. Nach der Entscheidung über das neue Staatsoberhaupt wird in Ankara mit einer Kabinetts-umbildung gerechnet. Dabei soll Mesut Yilmaz, Vorsitzender der konservativen Koalitionspartei Anap und ehemaliger Ministerpräsident, enger in die Koalitionsdisziplin eingebunden werden. Gedanken über die Zeit nach dem 16.Mai macht sich auch der derzeitige Präsident Demirel. Mit seinen 75 Jahren möchte er sich nicht aufs Altenteil zurückziehen - obwohl einer Umfrage zufolge sieben von zehn Türken das wollen: Demirel liebäugelt mit der Gründung einer neuen Partei. |