Tagesspiegel, 6.5.2000 Wahl in der Türkei Verfassungsrichter Ahmet Necdet Sezer wird Präsident Der Jurist will Schranken der Meinungsfreiheit aufheben - Machtkampf mit Militärs erwartet Thomas Seibert Das türkische Parlament trat am Freitag in Ankara zur entscheidenden dritten Runde der Präsidentenwahl zusammen. Mit 330 der insgesamt 550 Stimmen wählte es erwartungsgemäß den Verfassungsrichter Ahmet Necdet Sezer zum Präsidenten der Türkei. Sezer erhielt schon in den ersten beiden Wahlgängen mehr Stimmen als alle anderen Kandidaten zusammen; vor der dritten Runde zog auch noch sein stärkster Rivale, Parlamentspräsident Yildirim Akbulut, seine Bewerbung um das höchste Staatsamt zurück. Damit wurde der Weg für den 58-jährigen Sezer als ersten Juristen an der Spitze der türkischen Republik frei. Sezer soll sein Amt am 16. Mai antreten. Als Staatspräsident wird der als Verfechter einer weiteren Demokratisierung der Türkei bekannte Sezer während seiner siebenjährigen Amtszeit die Möglichkeit haben, insbesondere die Europapolitik seines Landes in der wichtigen Phase der EU-Kandidatur entscheidend zu beeinflussen. Auf Sezer, den Vorsitzenden des türkischen Verfassungsgerichts, hatten sich die Chefs aller fünf im Parlament vertretenen Parteien geeinigt, weil kein konsensfähiger Kandidat aus den Reihen der Politiker gefunden werden konnte. Die Kandidatur des Außenseiters Sezer hatte im Parlament eine Protestbewegung enttäuschter Abgeordneter ausgelöst. Sie verhinderten in den ersten beiden Wahlrunden die erforderliche Zweidrittelmehrheit für den Verfassungsrichter In der dritten Runde am Freitag war aber nur noch die einfache Mehrheit von 276 Stimmen erforderlich; Am Freitag bewarben sich außer Sezer damit nur noch vier andere Kandidaten. Mit einem Präsidenten Sezer an der Staatsspitze stehen der Türkei in innen- wie außenpolitischen Bereichen wichtige Neubestimmungen bevor. Der Staatspräsident hat zwar nur wenige konkrete Machtbefugnisse, ist aber als oberster Repräsentant der Republik eine zentrale Figur im politischen System. Zu seinen Aufgaben gehört es unter anderem, die mitunter gegenläufigen Machtinteressen der zivilen Regierung und der Militärs auszubalancieren. Es wird mit Spannung erwartet, wie Sezer diese Rolle spielen wird, denn er machte in den vergangenen Jahren mit geharnischter Kritik an der von den Militärs nach dem Staatsstreich von 1980 diktierten und bis heute geltenden Verfassung von sich reden. Die Verfassung gibt den Generälen durch den Nationalen Sicherheitsrat großen Einfluss auf die Politik; als Staatspräsident wäre Sezer Vorsitzender des monatlich tagenden Rates. Zu Sezers Forderungen gehört zudem die Beseitigung aller Beschränkungen der Meinungsfreiheit in der Türkei; dies ist auch eine der Hauptforderungen der Europäer an Ankara. Es wird sich zeigen müssen, ob Sezer als Staatspräsident genauso vehement für Reformen eintritt wie als Jurist. Schon vor der Wahl am Freitag wurde erste Kritik an der Haltung Sezers laut. Devlet Bahceli, der Chef der rechtsextremen Regierungspartei MHP, wies Sezer darauf hin, dass er sich als Präsident anders als in seiner Zeit als Verfassungsrichter nur im Rahmen der offiziellen "Positionen des Staates" äußern dürfe - eine kaum verhüllte Warnung an den Staatschef in spe, mit seiner Kritik an den Zuständen im Land nicht zu weit zu gehen. Den Wahlsieg vor Augen, gewährte Sezer der türkischen Öffentlichkeit unterdessen erstmals einen etwas tieferen Einblick in sein Privatleben. Zeitungsberichte entwarfen das Bild eines aus bescheidenen Verhältnissen stammenden, strebsamen und sparsamen Mannes, der auch als Verfassungsrichter lediglich einen Fiat Uno fährt. In mehreren wichtigen Bereichen ist Sezer fast das genaue Gegenteil des derzeitigen Präsidenten Süleyman Demirel: Während der Polit-Profi Demirel an keinem Mikrofon und an keiner Kamera vorübergehen kann, ohne eine Stellungnahme abzugeben und seinem Publikum zuzulächeln, wird der Berufsjurist Sezer als ein ernster Mann geschildert, der lieber liest als spricht. |