Neue Zürcher Zeitung, 05.05.2000 Spannung vor dem zweiten Wahlgang in Iran Breite Sympathien für die Vertreter des Reformkurses In 52 iranischen Wahlbezirken wird am Freitag ein zweiter Durchgang der Parlamentswahlen abgehalten. Da Plakate und Spruchbänder verboten sind, konzentrierten die Kandidaten ihren Wahlkampf auf die direkte Begegnung mit dem Stimmvolk. ber. Teheran, 4. Mai Der Festsaal in der Stadt Karaj, rund 50 Kilometer westlich von Teheran, ist voll. Am Wochenende werden hier Hochzeiten gefeiert, doch am Mittwoch abend, zwei Tage vor der zweiten Runde der iranischen Parlamentswahlen, findet eine Wahlveranstaltung der Reformer statt. Vor dem Lokal werden kleine Bilder der Kandidatin Fatimeh Karubi verteilt. Das Aufhängen grosser Wahlplakate sei durch einen Parlamentsbeschluss verboten worden, erklärt einer der Organisatoren. Mit den jüngsten Schliessungen von 16 Zeitungen und Zeitschriften sind die Reformkräfte ihrer wichtigsten Propagandamittel beraubt worden. Lauter Beifall braust auf, als die mit einem Tschador verhüllte Karubi erscheint und sich vor ihren Anhängern verbeugt. Auch die Frauen, die sich alle im rechten Drittel des Saales versammelt haben, klatschen, obwohl diese Geste von den Konservativen als unislamisch abgelehnt wird. Eine erfahrene Politikerin Karubi ist keine politische Neueinsteigerin. Bereits im letzten Parlament (Majlis), das noch in diesem Monat neu konstituiert werden soll, war sie Abgeordnete der Hauptstadt. Diesmal hätten die Reformkräfte um Präsident Khatami sie gebeten, für einen der beiden Sitze von Karaj anzutreten, sagt Karubi, nachdem sie bei den Frauen Platz genommen hat. Nur einer der drei Kandidaten, ein Neffe von Präsident Khatami, konnte in Karaj beim ersten Wahlgang am 18. Februar einen Sitz erringen. Karubi und ein dritter Kandidat scheiterten an der 25-Prozent-Hürde. Dennoch rechnet sich die Kandidatin nun gute Chancen aus, da sie bereits im Februar 25 000 Stimmen mehr als der Kandidat der Konservativen hatte. Auch ihr Mann sei ein bekanntes Mitglied des Parlaments und habe sie in ihrer politischen Arbeit immer unterstützt, fährt Karubi fort. Von der reformerischen Khordad-Front sei sie deshalb aufgestellt worden, weil sie eine langjährige Karriere im öffentlichen Gesundheitswesen hinter sich habe und Direktorin mehrerer Spitäler sei. Die Sorgen der Frauen Karubi ist auch Präsidentin der Organisation iranischer Muslime und der internationalen islamischen Frauenkonferenz. Obwohl prominent und bewundert, will sie keine Rede halten; es gehe hier nur um den zweiten Wahlgang und den Leuten seien ihre Standpunkte zur Genüge bekannt, sagt sie. Bevor sie den Saal in einem unbeachteten Moment verlässt, erklärt sie noch, sie sei durchaus für die Befreiung der Frau, soweit sie weder den Gesetzen des Islams noch denen der Verfassung widerspreche. Das Tragen des Tschadors sei weder in den einen noch in den anderen verankert. Während nun ein Unterstützer Karubis zu einer langen Rede über die politische Freiheit, den Islam und den sozialen Fortschritt ansetzt, greifen einige Frauen zum Bleistift und schreiben auf Papierservietten und Zettel kleine Briefe, die sie nach und nach der Besucherin aus Europa zuschieben. «Wir jungen Iranerinnen wollen die Farbe Schwarz endlich gegen eine hellere und fröhlichere austauschen», heisst es da, oder: «Wir, die arbeitenden Frauen, brauchen Hilfe. Wir wollen endlich bezahlbare Kindergärten.» In mehreren anderen Brieflein kommt die Enttäuschung über den Revolutionsführer Khamenei zum Ausdruck: «Wo war Khamenei, als im vergangenen Monat 16 Zeitungen verboten und die Redefreiheit grausam beschnitten wurde? Wir Frauen verlangen, dass der Justizapparat seine Entscheide zurücknimmt. Er hat sie sowieso nur gefällt, weil er dafür Geld von den Konservativen erhält.» Ein vierter Wunsch scheint nur auf den ersten Blick einfach: «Wir Iranerinnen wollen bei allen Sportkämpfen in der ganzen Welt teilnehmen.» Die Teilnahme ist ihnen fast überall wegen des absoluten Schleierzwangs untersagt. Annullierte Ergebnisse Im zweiten Wahlgang müssen in 52 Wahlkreisen 56 Kandidaten gewählt werden. Die meisten von ihnen waren wie Karubi an der 25-Prozent- Hürde gescheitert. In mehreren Wahlkreisen wurden hingegen einige Wochen später die Ergebnisse teilweise als ungültig erklärt. Als Grund wurden die vom konservativen Wächterrat entdeckten «Unterschiede» bei einer erneuten Zählung angegeben. Als es hiess, dass die Wahlergebnisse der beiden Städte Khalkhal und Damavand gänzlich annulliert würden, kam es in der Hauptstadt zu Demonstrationen vor dem Innenministerium. Nicht nur Studenten, auch ältere Frauen und Männer, protestierten. Sie gaben der weitverbreiteten Meinung Ausdruck, dass der Wächterrat die Ergebnisse fälsche, um den Konservativen beim zweiten Wahlgang mehr Chancen zu geben. Die Befürchtung, dass auch die dreissig Sitze der Teheraner Wahlbezirke in Frage gestellt würden, traf bisher nicht ein. 29 waren an Vertreter des Reformkurses von Präsident Khatami gegangen. Bei der Wahlveranstaltung in Karaj meinten ein paar Jugendliche, die am Freitag zum erstenmal wählen werden, dass sie im Falle einer Annullierung der Ergebnisse die Hauptstadt kurz und klein schlagen werden. |