Tagesspiegel, 6.5.2000

(Kommentar)

Green Card-Debatte

Deutschland braucht die Zuwanderung - aus Moral und aus Interesse

Robert Leicht

Der absurde Streit um die Green Card nimmt sich zunächst aus wie eine Wiederauflage der Polemik um die doppelte Staatsangehörigkeit. Noch mehr aber gleicht das polit-bürokratische Hin und Her um ausländische Computerexperten dem Gezerre um die 630-Mark-Jobs. In beiden Fällen tobt der Versuch, mit kleinkarierter Regelungswut (mindestens Hochschulexamen, mindestens 100 000 Mark Gehalt pro Jahr, am besten noch einen Deutsch- und einen Aids-Test dazu!!) Verspannungen in den Arbeitsmärkten zu regulieren, die durch Überregulierung und Fehlsteuerung erst hervorgerufen worden sind. Und in beiden Fällen ist das überbürokratische Minimum der Entbürokratisierung ein treffliches Symbol dafür, wie schwer es hierzulande fällt, Verhältnisse zu ändern. Denn die Green Card, das ist doch nur der "Dosenöffner" für eine grundsätzliche Veränderung in den grenzüberschreitenden Arbeitsmärkten. Und natürlich sagen unsere Reichsbedenkenträger, geöffnet werde in Wirklichkeit die Dose der Pandora.

Worum geht es im Prinzip? Um eine Schizophrenie in unserem Denken. Natürlich sind wir für eine Öffnung und Überwindung der Grenzen - dort, wo wir meinen, davon zu profitieren. Demnach soll unser Kapital, sollen auch unsere kleinen Ersparnisse (gesammelt in Anlagefonds) ihre Zinsen in aller Herren Länder erwirtschaften. Ganz gewiss soll auch das Kapital ausländischer Sparer bei uns Risiken eingehen, also: investiert werden. Herzlich willkommen in Germany, auch ohne Green Card, pardon: Kapitaleinfuhrkontrolle. Unsere Güter und Dienstleistungen sollen selbstverständlich in alle Welt exportiert werden, grenzenlos. Und natürlich wollen wir lieber die Betriebssysteme von Apple und Microsoft importieren, als deutsche Systeme zu verwenden; die gibt es nämlich nicht.

Mit anderen Worten: Für den freien Verkehr von Kapital, Gütern, Dienstleistungen sind wir im Prinzip zu haben, Landwirtschaft ausgenommen. Aber die Menschen, die dahinter stehen, die sollen bleiben, wo sie sind. Und zwar selbst dann, wenn wir uns mit dieser Sperre selber schaden. Das aber ist schizophren - und dumm dazu. Nun sind Staaten eben keine Kapital-, sondern Personalverbände. Also müssen und können hier andere Regeln gelten. Aber dürfen diese Regeln nun dümmer sein und rücksichtslos? Kapital und Güter sind austauschbar - Menschen nicht. Aber gerade weil Menschen nicht austauschbar sind, sagen wir: Alle Menschen sind gleich. Und folglich darf es keine Fremdenfeindlichkeit geben, denn es gibt keine Fremdenfeindlichkeit ohne Menschenfeindlichkeit.

Das ist das moralische Argument. Und nun das pragmatische: Ein Land, das wie das unsere - aus vielen Gründen - auf einen freien Austausch und gute Beziehungen angewiesen ist, darf sich die Schizophrenie zwischen Handelsfreundlichkeit und Fremdenfeindlichkeit einfach nicht leisten.

Zum konkreten Fall drei Punkte. Erstens: Wer unsere volkswirtschaftlichen Leistungsmöglichkeiten zurückstauen wollte, bis die Kinderzeugungswelle erfolgreich angelaufen ist und in 22 Jahren zum ersten Boom an 1a-deutschen Computerexperten führt, der hindert unsere Volkswirtschaft daran, für eben diese Kinder einen Arbeitsplatz und eine Zukunft zu schaffen.

Zweitens: In der ganzen EU herrscht Niederlassungsfreiheit. Wenn wir in diesem Rahmen keine Computerexperten finden, dann handelt es sich offenbar um ein europäisches Problem, nicht um ein deutschnationales. Wahrscheinlich hat eben die Explosion einer neuen Technologie und Industrie die Implosion der Bevölkerungen in den westlichen Gesellschaften überholt; ein typisches Anpassungs- und Modernisierungsproblem - auf Zeit!

Drittens: Wenn also weltweit Computerexperten knapp sind - und zwar selbst in Indien! -, warum sollen dann Inder ausgerechnet nach Deutschland kommen, da man doch in den USA freundlicher zu ihnen ist? Und besser Englisch mit ihnen spricht.

Gewiss, für reiche Gesellschaften sind Migrationsprobleme immer größer als für arme Länder und Regionen, weil es eben die Armen sind, die sich eher in Bewegung setzen als die ohnehin Reichen. Für dieses Problem gibt es keine Patentrezepte - auch keine moralischen. Umso mehr aber muss man sich die Fähigkeit zur Differenzierung bewahren - und falsche Differenzierungen vermeiden, zum Beispiel jene zwischen der Arbeitskraft eines Menschen, die man (zur Not!) auf Zeit in Anspruch nehmen will, und seiner ganzen Persönlichkeit (und Familie), die man lieber von hinten sieht.

Und zu den richtigen Differenzierungen gehört auch diese: die zwischen Asylrecht und Arbeitsmarkt. Das eine Problem darf nicht mit dem anderen erschlagen werden. Wir brauchen da und dort fremde Arbeitskräfte, weil nur eine hochproduktive Volkswirtschaft neben ihren egoistischen Interessen auch ihre moralischen Verpflichtungen erfüllen kann.