Tagesspiegel, 8.5.2000 19. Filmfestival in Istanbul Nur Gier nach Glück und Geld: Die jungen türkischen Filmemacher nehmen die Defekte ihrer Gesellschaft aufs Korn Daniela Sannwald Eine dichte, graue Wolkendecke hängt seit Tagen über Istanbul. Gelegentlich ergießt sich eine Sturzflut warmen Regens über die Stadt: Auf der Tag und Nacht gleichmäßig belebten Istiklal Caddesi, der Hauptstraße des Taksimviertels, hasten die Gäste des Filmfestivals dicht an den Hauswänden entlang, fröstelnd in ihrer hoffnungsvoll mitgebrachten Frühjahrsgarderobe. Dabei ist die Zahl der internationalen Gäste hier im Gegensatz zu anderen Festivals eher gering. Aber das liegt nicht am Programm und schon gar nicht an der charmanten Professionalität von Direktorin Hülya Ucansu und ihrem Team. Vielmehr scheint es die Stadt selbst zu sein, die manchen überfordert: Istanbul mit seinen gegenwärtig 13 Millionen Einwohnern - und die Zahl steigt und steigt - ist nicht nur eine der aufregendsten Metropolen der Welt, sondern auch ein Moloch, der jeden schluckt, der mit den hier herrschenden Regeln nicht vertraut ist. Wer sich zum Beispiel darauf verlässt, dass Zeitpläne eingehalten werden und dass Englisch zur Verständigung genügt, ist schlecht beraten. So fragt man einander nach dem Woher und Wohin und verkürzt sich die Wartezeit mit Witzen, Tipps und Anekdoten. Dass wiederum nicht alle Kontakte in dieser kommunikativen Gesellschaft freundlicher Natur sind, zeigt eine Reihe von einheimischen Filmen. Eines der Themen, mit denen sich junge türkische Filmemacher beschäftigen, ist just das Überleben in Istanbul. So etwa "Die dritte Seite" von Zeki Demirkubuz, der mit mit einer quälend langen Prügelszene beginnt: Wegen 50 Dollar, die er nicht zurückzahlen kann, droht Isa, dem Handlanger einer Verbrecherorganisation, der Tod - durch den eigenen Chef. Eigentlich ist Isa Statist bei einer Soap Opera, aber die hohen Lebenshaltungskosten in Istanbul, mit denen die niedrigen Löhne nicht annähernd Schritt halten, zwingen ihn, sich von der Mafia anwerben zu lassen. Als er verzweifelt in seine schäbige Kellerwohnung zurückkehrt, wartet dort schon sein Vermieter, ebenfalls brüllend: Wenn Isa die seit vier Monaten überfällige Miete nicht zahle, sitze er auf der Straße. Isa erschießt den Hauswirt. Als dann auch noch eine couragierte Nachbarin auf den Plan tritt und die Mafiaschulden begleicht, scheint die Welt wieder in Ordnung. Aber auch sie handelt aus egoistischen Motiven. Mit düsteren Schauplätzen und einer äußerst sparsamen Ausstattung ist Demirbukuz in "Die dritte Seite" das eindringliche Porträt eines Großstadt-Verlierers gelungen - sein Film wurde bei der Preisverleihung am Wochenende zu Recht gleich dreifach prämiert: mit dem Preis der Internationalen Filmkritik und den Auszeichnungen der nationalen Jury für die beste Regie und die beste Hauptdarstellerin. Durmus dagegen, der Held von "Frau Salkims Diamanten", ist ein Gewinnertyp: Die ehemalige Dokumentaristin Tomris Giritlioglu erzählt nicht nur eine Aufsteiger-Story, sondern arbeitet auch ein Stück nationaler Geschichte auf. Durmus kommt 1943 von Anatolien nach Istanbul, wo er Arbeit als Lastenträger findet. Schnell ergreift die Habgier von ihm Besitz. Ein Gesetz wird erlassen, das Geschäftsleute zu absurd hohen Abgaben zwingt. Skrupellos kungelt Durmus mit den Behörden und verrät selbst diejenigen, die ihm geholfen haben. Seine Dienste werden großzügig belohnt. Zum Schluss sehen wir ihn durch die Stäbe des prunkvollen Treppengeländers in seinem neu erworbenen Haus - doch es ist zum selbst erschaffenen Gefängnis geworden. Denn nach der Aufhebung des Gesetzes schlägt Durmus von allen Seiten Verachtung entgegen: Er ist ein Bauer geblieben. Der konsequenteste und anspruchsvollste Film zum Thema ist jedoch "Wie viel Geld, wieviel" des versierten Werbefilmers Reha Erdem. Als der überkorrekte Ladenbesitzer Selim im Taxi eine Tasche mit einer halben Million Dollar findet, ändert sich sein Leben schlagartig: Zunächst festen Willens, den Fund zurück zu geben, erliegt er der Versuchung, wenigstens einen kleinen Teil zu behalten, und schon ist es um ihn geschehen. Er deponiert das Geld in einem Banksafe und kann an nichts anderes mehr denken. Getrieben von seiner Obsession, vernachlässigt er sein Geschäft, seine Freunde, seine Familie. Auch ihm wird die Habgier zum Verhängnis. Reha Erdem präsentiert seinen Helden in dauerndem Zwielicht, stellt ihn in durchs Dekor geschaffene Rahmen, lässt ihn atemlos durch die City hasten. Das zeitgenössische Istanbul erweist sich als eine vom Mammon regierte Vorhölle, in der harte Währungen allemal Vorrang vor der einheimischen Lira haben - kein Wunder bei einer Inflationsrate von 60 Prozent. Ein zweites Hauptmotiv im türkischen Kino sind der Militärputsch vom 12. September 1980, die bürgerkriegsähnlichen Zustände davor und die unbarmherzige Verfolgung der intellektuellen Opposition danach. In "Septembersturm", einem wunderschönen Film von Altmeister Atif Yilmaz, muss der sechsjährige Metin verstehen, was selbst Erwachsene nicht begreifen können: seine Eltern, beide Oppositionelle, fliehen nach Haft und Folter ins Ausland und lassen ihn bei seinem Großvater auf einer sonnigen Insel zurück. So taumelt Metin zwischen glücklichen Sommertagen und alptraumhaften Nächten hin und her. Das Kind verliert sich in seinen Fantasien eines normalen Familienlebens und wird bald zum Außenseiter. Der Kontrast zwischen der Ferienstimmung und den düsteren Gefängnisbildern gibt einen plastischen Begriff von der alltäglichen Bedrohung, der die Opposition vor zwanzig Jahren ausgesetzt war. Yilmaz erzählt vor allem von Angst - von der Angst, die umging in einem Land, wo viele jeden Tag verhaftet werden konnten. |