taz Nr. 6137 vom 9.5.2000 Seite 12

taz-Debatte
Doppelte Loyalität

EINWANDERUNGSLAND DEUTSCHLAND (7): Deutschland war auch Auswanderungsland. Lange gab es für die Emigranten keinen Konflikt zwischen der deutschen Kultur und der neuen Heimat

von SABINE VOGEL

Wie deutsch muss man sein, um sich in Deutschland einbürgern lassen zu können? Offenbar ziemlich deutsch, wie die Plakatkampagne der Bundesregierung für das neue Staatsbürgerschaftsrecht suggeriert. "Deutsche Türkin. Inländerin mit ausländischem Pass: Spricht deutsch. Denkt deutsch. Träumt deutsch." So wirbt eines der Plakatmotive. Aber geht das nicht zu weit? Als deutsche Staatsangehörige deutsch zu sprechen ist unvermeidlich, deutsch zu denken ist sicher hilfreich, aber ist es wirklich nötig, deutsch zu träumen? Hängt die Loyalität gegenüber einem Staat ab von der Sprache der Träume, von der kulturellen Identität?

Von heute aus gesehen scheint es, als sei die nationalistische Überzeugung schon immer gültig gewesen, dass Volkszugehörigkeit und Staatsangehörigkeit übereinstimmen müssen. Von alters her scheint in einem Staat nur ein Volk leben zu können. Seit ewig scheint zu gelten: Nur Deutsche leben in Deutschland, nur Franzosen in Frankreich. Aber dieses "schon immer" ist tatsächlich recht jung.

Selbst als der Nationalismus entstand, Anfang des 19. Jahrhunderts, war er zunächst nicht darauf ausgerichtet, die Bevölkerung Europas nach Kriterien der Volkszugehörigkeit zu sortieren. Stattdessen war der Nationalismus eine Idee von liberalen Denkern, die sich im Wesentlichen auf eine Regierungsform - die Republik - bezog. Die Adelsherrschaft sollte durch die Demokratie abgelöst werden. Die Nationalisten selbst konnten innerhalb eines Staates durchaus verschiedenen Volksgruppen angehören. Erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts begannen sich die Nationalismen gegenseitig auszuschließen. Als Bürger eines Staates wurden nun nicht mehr diejenigen angesehen, die dessen Regierung loyal gegenüberstanden, sondern man musste "dazugehören". Und wer Teil der Nation sein durfte, definierte sich nach Kriterien, die sich nicht ändern oder abstreifen ließen: Muttersprache oder "Rasse", kurz ethnische Zugehörigkeit, diente als Abgrenzung zwischen verschiedenen Volksgruppen.

Besonders im habsburgischen Vielvölkerstaat wurde dies langfristig zu einem Problem. Als 1867 der österreichisch-ungarische Doppelstaat gegründet wurde, fanden sich Rumänen, Deutsche, Serben, Kroaten und Bulgaren als Minderheit in Ungarn wieder. Zwar genossen sie theoretisch Minderheitenschutz, doch waren sie eben nicht Angehörige der Staatsnation, sondern eine ethnische Randgruppe. Das wachsende Bedürfnis der Mehrheitsbevölkerung nach einem ethnisch homogenen Nationalstaat schlug sich in einem starken Assimilierungsdruck nieder. Dem gegenüber entstand ein nationales Bewusstsein der Minderheitengruppen. Dieser Gegensatz verschärfte die traditionell vorhandenen Konflikte um Einfluss und Ressourcen. Schließlich verfestigte sich die Überzeugung, dass es außer weitgehender Assimilation oder Vertreibung keine Lösung gab.

So kam es, dass im vergangenen Jahrhundert insgesamt 50 Millionen Menschen umgesiedelt oder vertrieben wurden - und dies mit ausdrücklicher Zustimmung der internationalen Staatengemeinschaft. Die erste große Umsiedlung vereinbarten Bulgarien, Griechenland und die Türkei 1913, am Ende des Ersten Balkankriegs. Auch der Vertrag von Lausanne, der 1923 den Griechisch-Türkischen Krieg beendete, begriff die Vertreibung als Mittel der Politik. 1,35 Millionen Griechen und 430.000 Türken wurden zwangsweise umgesiedelt; der Völkerbund stimmte dem zu.

Das nationalsozialistische Deutschland trieb die Idee eines ethnisch homogenen Nationalstaats auf die Spitze: Für die Wahnidee eines rassenreinen deutschen Volkskörpers und eines geschlossenen deutschen Volksbodens wurde die "nichtarische" Bevölkerung ermordet, die nichtdeutsche aus den besetzten Gebieten vertrieben. Im September 1945 schließlich zogen die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz neue Grenzen in Mitteleuropa. Um die Identität von Volkstum und Staat in den neu definierten Ländern herbeizuführen, wurde die Umsiedlung von 30 Millionen Menschen beschlossen. Darunter waren 15 Millionen Deutsche. Schließlich war auch die Vertreibung der Kosovo-Albaner im vergangenen Jahr in Ex-Jugoslawien von der Überzeugung geleitet, dass es zu ethnisch homogenen Nationalstaaten keine Alternative gibt.

Assimilation oder Vertreibung, das sind die einzigen Lösungen, die der Nationalismus für ethnisch heterogene Gesellschaften vorsieht. Aber den Nationalismus gab es nicht "schon immer", und es braucht ihn keineswegs für immer zu geben. Auch in der deutschen Geschichte gibt es Beispiele dafür, wie sich unterschiedliche ethnische und nationale Identitäten vereinbaren lassen. 1764 hatte Katharina von Russland deutsche Kolonisten angeworben. Das Wolgagebiet sollte besiedelt werden. Den Einwanderern wurden Privilegien eingeräumt, um sie herbeizulocken: Steuerfreiheit für einige Jahre, das Recht auf Freizügigkeit, eine eigene Verwaltung, freie Religionsausübung und Befreiung vom Militärdienst. Etwa hundert Jahre später wurden die Sonderrechte aufgehoben. Die Wolgadeutschen, die in ihrer Region etwa zwei Drittel der Bevölkerung ausmachten, dienten nun in der russischen Armee - und niemand zweifelte an ihrer Loyalität zum russischen Staat.

Auch in einigen Landstrichen des Habsburgerreiches - in Galizien, im Banat, in der Bukowina und in der Batschka - herrschte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Mangel an Arbeitskräften. Werber zogen durch Süddeutschland, um Einwanderer für die von Kriegen verwüsteten und entvölkerten Landstriche zu gewinnen. Auch ihnen wurden Privilegien eingeräumt. Aus Schwaben, Bayern und Franken kamen die Siedler und ließen sich in der Region nieder. Als der Nationalismus im Habsburgerreich aufkam, blieb die ländliche Bevölkerung davon weitgehend unberührt. Es war eine städtische Bewegung, die unter anderem auch die deutsche Minderheit in Budapest erreichte. Sie engagierten sich als ungarische Patrioten für die neue Staatsform. Dass sie gleichzeitig ihre deutsche Kultur und Sprache pflegten, empfanden sie nicht als Widerspruch.

Und heute? In den Fünfzigerjahren fehlten in der Bundesrepublik Arbeitskräfte. Erneut zogen Werber aus - diesmal nach Italien, Jugoslawien und in die Türkei, um Gastarbeiter zu gewinnen. Obwohl ihnen keine Privilegien versprochen wurden, sind sie gekommen und geblieben. Wie deutsch müssen sie nun sein, um deutsche Staatsbürger werden zu können? Folgte man der nationalistischen Sicht, müssten sie sich sehr weitgehend assimilieren. Deutsch zu träumen wäre in diesem Fall unabdingbar. Oder gibt es nicht doch die Möglichkeit, sich vom Nationalismus zu trennen und an eine ältere historische Entwicklung anzuknüpfen? Wenn sich deutsche Volkszugehörigkeit und ungarische oder russische Staatsangehörigkeit nicht ausgeschlossen haben, warum sollte sich dann heute nicht türkische kulturelle Identität mit deutscher Staatsangehörigkeit verbinden lassen?

Hinweise: Assimilation oder Vertreibung - Nationalisten kennen keine andere Lösung Wolgadeutsche dienten in der russischen Armee - ganz normal und loyal