Südwest Presse, 11.5.2000 LEITARTIKEL Das Boot leert sich ANTJE BERG ¸¸Das Boot ist voll.'' Mehr fällt dem deutschen Innenminister zum Thema Einwanderungspolitik nicht ein. Diese reflexartige Abwehr verstellt Otto Schily (SPD) den Blick nach vorn. Und so kann oder will er nicht sehen, dass sich das Boot zu leeren beginnt. In den vergangenen zwei Jahren verließen mehr Ausländer die Bundesrepublik, als in unser Land einwanderten, Asylbewerber inbegriffen. Nach wie vor kehren viele Menschen, die als Gastarbeiter geholt worden sind, im Rentenalter in ihre alte Heimat zurück. Zweiter wichtiger Trend: Immer mehr Deutsche empfinden das Aufziehen von Kindern als arge Zumutung - und bleiben kinderlos. Wissenschaftler sagen voraus, dass in etwa 40 Jahren statt 82 nur noch 60 Millionen Menschen in der Bundesrepublik leben werden. Das muss man nicht bedauern. Angesichts der weltweiten Bevölkerungsexplosion sind ein paar Millionen Teutonen weniger durchaus zu verschmerzen. Besorgnis erregend ist aber, wie sich die Bevölkerung zusammensetzen wird, sieht man der Entwicklung weiter tatenlos zu. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarktforschung gäbe es dann noch 24 Millionen Erwerbstätige: Statt wie heute sieben müssten drei Arbeitnehmer für zwei Rentner aufkommen. Das böte jede Menge Zündstoff. Mit ein paar Green-Card-Initiativen wäre der Arbeitskräftemangel nicht mehr zu beheben. Stürmische Zeiten, die uns da bevorstünden. Das spärlich besetzte Boot geriete ohne Frage in Seenot. Zu verhindern ist das nur mit einer gezielten Einwanderungspolitik. Weil sich in den nächsten zehn Jahren die Arbeitslosigkeit aus demographischen Gründen halbieren wird, muss in absehbarer Zeit festgelegt werden, wie viele und welche Zuwanderer in Deutschland erwünscht sind. Ein Einwanderungsgesetz sollte so angelegt sein, dass die einzelnen Gruppen, die man ins Land lässt, nicht gegeneinander aufgerechnet werden können. Nur so schafft man Rechtssicherheit für alle Beteiligten: für die Arbeitsmi-granten wie für die Menschen, die im Zuge der Familienzusammenführung kommen. Wer weiß, wie langwierig sich derartige Entscheidungsprozesse gestalten, muss die Diskussion um ein solches Gesetz vorantreiben. Doch die SPD schreckt davor zurück. Zu tief sitzt der Schock der verlorenen hessischen Landtagswahl, welche die CDU mit ihrer Kampagne gegen den Doppel-Pass gewann. Deshalb ist zu begrüßen, dass Bundespräsident Johannes Rau morgen deutlich machen will: Ohne Zuwanderung hat Deutschland keine Zukunft. Dass CDU und CSU eine mögliche Zustimmung mit der Forderung verknüpfen, das Asylrecht zu verschärfen, macht die Sache nicht leichter. Noch immer versucht die Union, Überfremdungsängste zu schüren und sie politisch auszuschlachten. Dabei besteht derzeit gar kein Anlass, das Asylrecht zu ändern. Noch nie kamen so wenige Flüchtlinge nach Deutschland: 100 000 sind es im Jahr, 15 000 dürfen bleiben. Gern wird auch darauf verwiesen, die Zuwanderungspolitik müsse EU-weit geregelt werden. Doch das kann dauern. So spricht nichts dagegen, zunächst ein nationales Einwanderungsrecht zu gestalten, statt zu warten, bis Andere Fakten schaffen. Wer sich einer sachlichen Diskussion darüber verweigert oder sie immer wieder vertagen will, riskiert, dass das Boot kentert - nicht weil es zu voll, sondern weil es zum Spielball hoher Wellen geworden ist.
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